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Kein Schweizer Geld für Ilisu-Staudamm

Ilisu: Umstrittener Staudamm am Tigris bei Hasankeyf im Osten der Türkei. Keystone

Weil die Auflagen für Umwelt- und Kulturgüterschutz nicht erfüllt worden sind, stoppen Deutschland, Österreich und die Schweiz die Exportrisiko-Versicherungen für das umstrittene Ilisu-Staudammprojekt in der Türkei. Gegner des Projekts zeigen sich erfreut.

Zwar seien “erhebliche Verbesserungen” festgestellt worden, die Türkei habe die Auflagen jedoch nicht innerhalb der vertraglich festgelegten Frist bis am Montag, 6. Juli um Mitternacht erfüllt, teilte die Schweizerische Exportrisikoversicherung (SERV) mit.

Bereits vor einigen Wochen war durchgesickert, dass die Türkei die Auflagen zu Umweltschutz, Kulturschutz und Menschenrechten nicht erfüllen könne. Staudammgegner rechneten mit einem Nein der Europäer und bezeichneten dies bereits im Vorfeld als Sensation.

Die Schweiz hatte Firmen, die an dem Bauprojekt beteiligt sind, Garantien für insgesamt 225 Millionen Franken zugesichert. Am Bau beteiligt sind die Bau- und Ingenieursfirmen Maggia, Colenco und Stucky sowie die Turbinenbauerin Alstom.

Bereits im Dezember 2008 stoppten die Schweiz, Deutschland und Österreich die Kreditbürgschaften für das umstrittene türkische Ilisu-Staudammprojekt und gaben der Türkei eine 180-tägige Frist, um die rund 150 Auflagen in den Bereichen Umwelt, Umsiedlung und Kulturgüter zu erfüllen.

Die Arbeiten am Ilisu-Staudammprojekt wurden aufgeschoben. Davon waren auch die im Konsortium vertretenen Schweizer Firmen betroffen.

Druck auch aus der Türkei

Europäische Nichtregierungs-Organisationen kämpften in den letzten Wochen weiter gegen das türkische Megaprojekt an. Auch in der Türkei wurden kritische Stimmen laut. So äusserten sich etwa der Schriftsteller Yasar Kemal, Nobelpreisträger Orhan Pamuk und Popsänger Tarkan negativ zum Ilisu-Staudammprojekt.

Die Gegner des Staudamms haben den Ausstieg der Schweiz als “wichtigen Sieg” gefeiert. Die türkische Regierung habe es trotz mehrfacher Warnungen und einer letzten Frist versäumt, “die grundlegendsten Bedürfnisse der Bevölkerung genügend zu berücksichtigen”, schreibt die Erklärung von Bern.

“Mit diesem Schritt bekommt der Schutz von Menschen, Kulturgütern und Natur erstmals Vorrang vor kurzfristigen Wirtschaftsinteressen”, freut sich Christine Eberlein von der EvB.

Marlies Bänziger von der Grünen Partei bezeichnete den Entscheid gegenüber swissinfo.ch als “wichtigen, richtigen und konsequenten Schritt nach langem Zögern”. Der Bundesrat habe die Notbremse gezogen, mit Deutschland und Österreich. Das jahrelange Nachhaken habe die Regierungen ermutigt.

“Es ist ein Entscheid für ökologische und soziale Standards und Minderheitenschutz. Es ist ein Entscheid gegen einen neuen Konfliktherd im Nahen Osten und gegen die Privatisierung von Wasser.”

Arbeitsplätze nicht gefährdet

Die Lieferfirmen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich bedauern den Entscheid. Was dies für die Firmen bedeute, hänge nun vom weiteren Vorgehen der Türkei ab.

“Es ist vollkommen offen, wie es weitergeht”, sagte Alexander Schwab, Mediensprecher des Lieferkonsortiums. Er gehe davon aus, dass die Türkei am Projekt festhalte.

Ob die türkische Regierung nun auf chinesische, russische oder indische Firmen setze, könne noch nicht gesagt werden. Die europäischen Firmen bangen um Aufträge in der Höhe von insgesamt rund 680 Millionen Franken.

Zu einem grossen Arbeitsplatzabbau werde es aber nicht kommen, sagte Schwab: “Das Projekt war im Anfangsstadium. Viele unserer Aufträge wären erst gekommen.” Bisher seien erst wenige Arbeiten ausgeführt worden.

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Exportrisiko-Versicherung

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Schweizerische Exportrisikoversicherung (SERV) ist eine öffentlich-rechtliche Anstalt des Bundes. Sie löste per 1. Januar 2007 die 1934 gegründete Schweizerische Exportrisiko-Garantie (ERG) ab und versichert heute Schweizer Exporte praktisch weltweit. Im Handelsverzeichnis eingetragene Schweizer Exporteure können sich bei der SERV gegen Exportrisiken versichern, die private Versicherer kaum oder nur selektiv anbieten. Im September 2004 hat…

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Economiesuisse: nicht überrascht

Dass sich die Schweiz aus einem so grossen und komplexen Projekt zurückziehe, ist laut Economiesuisse bisher einmalig. Der Wirtschaftsdachverband bedauert, dass die Türkei die gestellten Bedingungen nicht habe einhalten können.

“Der Entscheid überrascht uns nicht. Es ist nachvollziehbar, dass die Schweiz so entschieden hat”, sagte die Westschweizer Direktorin von Economiesuisse, Christina Gaggini.

Die Türkei hat den Rückzug scharf kritisiert. Es handle sich um einen
“politischen Entscheid”, erklärte das türkische Umweltministerium.

Die Türkei werde das Projekt trotz des Ausstiegs der Europäer weiter vorantreiben. Wie das geschehen soll, ging aus der Erklärung nicht hervor.

Kulturgüter in Gefahr

Der Ilisu-Staudamm soll in der Südosttürkei am Tigris, rund 60 Kilometer von der Grenze zu Syrien und dem Irak entfernt, gebaut werden. Es handelt sich dabei um eines der grössten Staudammprojekte der Türkei.

Gegner des Projekts warnen jedoch davor, dass in der hauptsächlich von Kurden bewohnten Region Dutzende von Siedlungen und wertvolle Kulturgüter, wie die 10’000 Jahre alte Stadt Hasankeyf, dem Untergang geweiht würden.

Rund 60’000 Menschen müssten gemäss NGO den Fluten weichen und ihre Heimat verlassen. Diese Zahl wird von der türkischen Regierung bestritten.

Das Kraftwerk, das voraussichtlich 2013 fertig gestellt werden sollte, soll mit einer Leistung von rund 1200 Megawatt rund zwei Millionen Haushalte in der Türkei mit Energie beliefern.

swissinfo.ch

Vier Schweizer Unternehmen – Alstom Schweiz, Colenco, Maggia und Stucky – sind Teil eines internationalen Konsortiums.

In der Schweiz hatte der Bundesrat diesen Firmen eine Exportrisikogarantie für Leistungen für den Ilisu-Staudamm im Umfang von 225 Mio. Franken erteilt.

Durch den Bau des Ilisu-Staudammes verschwinden jahrtausendealte Kulturgüter, zum Beispiel die südanatolische denkmalgeschützte Stadt Hasankeyf.

Die meisten Menschen, die ihre Heimat verlieren, werden ohne gesicherte Perspektive in Städte abwandern.

Umweltorganisationen befürchten, der Stausee könnte sich angesichts der vielen ungeklärten Abwasser rasch in eine versalzene, sauerstoffarme Kloake ohne Fische verwandeln.

Dem Wasser kommt in der Region eine strategische, geopolitische Dimension zu. Einerseits treffen die Umsiedlungen in grossem Mass die kurdische Minderheit.

Die Anrainerstaaten Syrien und Irak befürchten, die Türkei könnte den Wasserabfluss des Ilisu zu ihrem Nachteil regulieren.

swissinfo.ch

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