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Keine manipulierten Zahlen mehr zur Kriminalität

Olivier Guéniat gibt dieser Tage ein Buch über die Jugendkriminalität heraus. swissinfo.ch

Bis 2009 sollen die kantonalen polizeilichen Systeme zur Erfassung und Berechnung der Kriminalität vereinheitlicht sein. Dank dieser Revision kann ab 2010 aufgezeigt werden, wie es damit in der Schweiz steht.

Wie Olivier Guéniat, Chef der Sicherheitspolizei von Neuenburg, gegenüber swissinfo erklärt, wird es danach schwierig, die Zahlen zu politischen Zwecken zu manipulieren.

Seit 1986 gibt es eidgenössische Kriminalstatistiken. Seither haben die Bundespolizei und die Kantonspolizeien zur Erfassung und Berechnung der Straftaten je ihre eigenen Methoden ausgearbeitet.

Ausserdem liefern sie dem Bundesamt für Statistik (BFS) nur allgemeine Zahlen.

Es mussten also gemeinsame Methoden gefunden werden, um in einer einheitlichen Sprache eine Art Bundeskartei zu den Straftaten aufzubauen. Nach zehn Jahren ist die Revision der polizeilichen Kriminalstatistik nun in der Schlussphase.

swissinfo: Sind nach dem zehnjährigen Aufbau einer “Zentralkartei” ab 2010 genaue Angaben über die Kriminalität in der Schweiz möglich?

Olivier Guéniat: Wir werden ab spätestens 2010 genaue und direkte Angaben haben. Aber um diese besser zu verstehen, braucht es noch ein paar Jahre, damit auch aufgezeigt werden kann, wie sich die Kriminalität im Verlauf der Zeit entwickelt.

Wahrscheinlich dürfen zunächst keine Zahlen veröffentlicht werden, bis das BFS eine neutrale und objektive Analyse liefern kann. So können die Tendenzen auf nationaler und vielleicht auch auf regionaler Ebene aufgezeichnet werden. Danach können sich die Kantone zu den Vorgängen auf ihrem Gebiet äussern.

Das ist wichtig, denn die Kriminalität ist ein politisches Problem geworden. So können die Zahlen weniger manipuliert werden. Es ist traurig, dass die Medien heute ganz beängstigende Botschaften blind weiterverbreiten, ohne die Zahlen zu hinterfragen, die heute alles oder nichts aussagen.

swissinfo: Namentlich über die Straffälligkeit von Ausländern, weil die aktuellen Statistiken nicht sehr transparent sind?

O.G.: Heute ist die Kategorie “Ausländer” eine Mischung, es wird nicht unterschieden zwischen solchen mit Aufenthaltsbewilligung und illegal Anwesenden. Der einzige Hinweis betrifft das Wohn- oder das Herkunftsland.

Das ist aber ein sehr heikles Problem. Wenn wir Zeugen suchen, müssen wir Angaben über das Aussehen der Verdächtigen machen. Meist übernehmen wir die Terminologie von Interpol, und ich achte darauf, dass wir politisch korrekt bleiben.

Aber wir lesen noch zu oft von einem “Schwarzen”, obwohl wir für Staatsangehörige aus diesen Regionen “Afrikaner” schreiben. Muss man “dunkelhäutig” oder “Nordafrikaner” schreiben?

Und wie soll man jemanden aus Sri Lanka oder aus Südostasien beschreiben? Im Schweizer Polizeiwesen ist nichts einheitlich.

Anders ist es, wenn wir die Öffentlichkeit über unser Vorgehen informieren, wozu wir verpflichtet sind. Da ist die Nationalität des Verdächtigen nicht von Interesse.

Aber weil die Medien uns immer danach fragen, geben wir sie von uns aus an, ebenso das Alter, damit wir nachher nicht mit Anrufen überschwemmt werden.

swissinfo: Seit wann übt die Politik Druck auf die Polizei aus?

O.G.: Seit der französischen Präsidentschaftswahl 2002. Damals wurde mit der Unsicherheit Wahlkampf gemacht, obwohl diese auf Randgebiete wie die Vororte beschränkt war. In der Schweiz hat sich das Fernsehen darauf gestürzt, und damit ist es auch hier ein politisches Thema geworden.

In diesem Wahljahr habe ich nach einem einfachen Vergleich der Parteiprogramme von links bis rechts festgestellt, dass die Sicherheit eines der fünf oder gar drei Topthemen jeder Kampagne ist.

swissinfo: Aber Sie nutzen jede Gelegenheit, um festzuhalten, dass die Kriminalität nicht zunimmt?

O.G.: Sie ist seit 1982 generell stabil. Bei einem Einbezug aller kantonalen Daten stellen wir einen Rückgang der Diebstähle fest. Deren Zahl ist um 25-mal höher als jene der Körperverletzungen.

Über Diebstähle weiss man fast alles, weil die Versicherungen verlangen, dass eine Klage eingereicht wird, bevor sie sich der Sache annehmen.

In Bezug auf die Gewalt nehmen die Straftaten statistisch gesehen zu, aber die Zahlen sind schwer zu interpretieren. Es gibt nicht unbedingt mehr Streitereien zwischen Personen. Es werden, zumindest zum Teil, mehr Klagen eingereicht, vor allem, seit es möglich ist, mit Handys Beweise vorzulegen, wie zum Beispiel bei Drohungen per SMS.

Und dann kann es für ein Ereignis mehrere Klagen geben, wodurch dieses in der Statistik mehrmals auftritt.

So reicht zum Beispiel eine Person eine Klage ein wegen Schlägen, Drohungen und Körperverletzung, das sind dann schon drei Verstösse. Dann klagt der Angreifer, auch er sei bedroht worden: Damit haben wir zwei Täter und zwei Opfer. So können die Zahlen künstlich aufgebläht werden.

Wenn wir Täter und Opfer in Bezug auf die Art des Ereignisses besser feststellen können, wissen wir auch endlich, wie viele Verstösse das gleiche Ereignis betreffen.

Wahrscheinlich können wir beweisen, dass die Kriminalitätsrate in der Schweiz tiefer ist als im restlichen Europa. Aber auch, dass heute nicht mehr Gewalt angewendet wird als früher, und nicht vorwiegend von Jugendlichen oder Ausländern.

Ich gebe mir wirklich viel Mühe, dies in der Öffentlichkeit bekannt zu machen, um den beängstigenden Botschaften entgegenzutreten, die von jenen verbreitet werden, welche die vermischten Nachrichten für ihre Zwecke ausnutzen.

swissinfo-Interview, Isabelle Eichenberger
(Übertragen aus dem Französischen: Charlotte Egger)

Seit 1986 gibt es eidgenössische Kriminalstatistiken. Seither haben die 26 Kantonspolizeien zur Erfassung und Berechnung von Straftaten eigene, autonome Methoden ausgearbeitet.

2006 beschlossen Bundesrat (Landesregierung), Bundespolizei und Kantone, eine einheitliche Methode für die Erfassung der Daten zu strafbaren Handlungen zu definieren.

Bis 2009 müssen die Kantonspolizeien ihre Informatiksysteme vereinheitlichen, um die Straftaten in der Schweiz besser analysieren zu können.

Die Kantone St. Gallen, Appenzell Ausserrhoden, Zug, Thurgau, Obwalden, Nidwalden, Genf und Basel Stadt sind bereits so weit, Neuenburg wird es 2008 sein.

Olivier Guéniat wird 1967 in Pruntrut (Jura) geboren. Er hat einen Doktortitel des Institut de police scientifique et de criminologie (Institut für Polizei- und Kriminalwissenschaft) der Universität Lausanne.

1992-1997: Chef des strafrechtlichen Erkennungsdienstes der jurassischen Kantonspolizei.

Seit 1997: Chef der Sicherheitspolizei des Kantons Neuenburg.

Am 24. April kommt Guéniats Buch “La Délinquance des jeunes” (Die Jugendkriminalität) heraus.

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