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Goldener Leopard für den Katalanen Albert Serra

Der 38-jähige Albert Serra gewinnt den Goldenen Leoparden am 66. Filmfestival Locarno. pardo.ch

Im internationalen Wettbewerb des 66. Filmfestivals Locarno hat Albert Serra für seinen Film "Historia de la meva mort" den Hauptpreis gewonnen. Damit ging die erste Festivalausgabe unter der neuen Leitung von Carlo Chatrian zu Ende. Die Kontinuität des Festivals wird von der Kritik gelobt, bemängelt wird das Fehlen ganz grosser Highlights. Die Qualität und Vielfalt des Schweizer Filmschaffens findet hingegen grossen Anklang.

Albert Serra ist das “Enfant terrible” des katalanischen Films. Und auch die Auszeichnung von “Historia de la meva mort” (Geschichte meines Todes) mit dem Goldenen Leoparden beim 66. Filmfestival Locarno entzweit die Kritik.

Für den Filmkritiker Aureliano Tonet von Le Monde handelt es sich um einen echten “Hammerfilm”; der Kritiker von Le Temps, Antoine Duplan, findet das Werk hingegen “unglaublich arrogant.”

“Ich war von den prächtigen Einstellungen beeindruckt und der Idee eines ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse, das sich im Treffen zwischen Casanova – als Freund von Voltaire und Repräsentant der Aufklärung – und Dracula als Symbol geheimer Mächte im 19.Jahrhundert spiegelt”, sagt Aureliano Tonet.

Ganz anders der Eindruck von Antoine Duplan über den 148 Minuten langen Film: “Grafisch ist er ganz schön, die Einstellungen sind gut gedreht, aber er verkörpert einen sterilen Intellektualismus und arbeitet mit Laienschauspielern.”

Albert Serra wurde 1975 in Spanien geboren. Er gilt als radikaler Filmemacher. So sagte er gegenüber der spanischen Redaktion von swissinfo.ch: “Kritik und Publikum interessieren mich nicht. Manchmal mag man einen Film, aber aus den falschen Gründen, weil man gar nicht die Essenz dessen verstanden hat, was der Regisseur vermitteln wollte. Erfolg ist etwas sehr Relatives.”

Über das Festival von Locarno sagt er: “Was mich an dieser Auszeichnung berührt hat, ist die Tatsache, dass in Locarno von Anfang an über Kino und Film diskutiert wird. Das ist mir das Wichtigste.”

POSITIV

       E agora? Lembra-me von Joaquim Pinto (Portugal). “Es ist kein egoistischer Film, aber eine Art universales Liebesgedicht.”

NEGATIV

       Historia de la meva mort von Albert Serra. “Von einer ungekannten Arroganz.”

       Feuchtgebiete von David Wendt (Deutschland). “Der scheusslichste Film, den ich je gesehen habe: Niederträchtig, frauenfeindlich, einfach abscheulich.”

Erste Ausgabe unter Carlo Chatrian

Das 66.Filmfestival Locarno war das erste Festival unter Leitung des neuen künstlerischen Direktors Carlo Chatrian. Das Urteil zu seiner Arbeit fällt gemäss einer Mini-Umfrage von swissinfo.ch einhellig aus: Der 42-jährige Italiener hat als Nachfolger von Olivier Père für Kontinuität gesorgt, doch im internationalen Wettbewerb fehlten die Knaller. Einige Entscheide sorgten für Überraschung und Unverständnis. Positiv gewertet wird die Präsenz des Schweizer Filmschaffens bei dieser Filmfestivalausgabe.

“Carlo Chatrian hat es geschafft, dem Festival eine solide Kontinuität zu geben, mit einem Mix an vielen Stilarten und Filmen. Doch das diesjährige Festival war nicht ganz so würzig-scharf wie in den Vorjahren”, meint Michael Sennhauser, Journalist und Filmspezialist beim Schweizer Radio und Fernsehen (SRF2). Antonio Mariotti vom Corriere del Ticino ist mit dem Wettbewerb “halbwegs zufrieden, auch wenn es vier oder fünf Flops gab”.

Laut Sennhauser gibt es jedes Jahr Filme, deren Auswahl für den Wettbewerb eine Reihe von Fragen auslösen. “Mit Olivier Père dominierte die Lust an der Provokation. Dieses Jahr gab es im Wettbewerb einige Filme, die wie ‘cineastische Spurensuchen’ daher kamen. Ein überholter Stil, der dem Wettbewerb nicht gut tut. Ich denke da vor allem an den Dokumentarfilm ‘Pays barbare’ der italienischen Regisseure Yervant Gianikian und Angela Ricci-Lucchi. Den Film ‘Gare du Nord’ der Französin Claire Simon fand ich hingegen grossartig.”

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Durchwachsene Bilanz

Antoine Duplan, Filmkritiker der Westschweizer Tageszeitung Le Temps, meint hingegen: “Diese Festivalausgabe hat nicht aufgekratzt. Ich habe keine Filme gesehen, die mich wirklich begeistert oder überrascht haben. Die Mehrheit der Filme wies eine durchschnittliche Qualität auf, echte und unvergessliche Meisterwerke habe ich nicht gesehen.”

War es also ein enttäuschendes Festival? “Enttäuschend wäre zu ein zu harter Ausdruck”, präzisiert Duplan. Es habe schon einige interessante Werke gegeben, wie den portugiesischen Dokumentarfilm “E agora? Lembra-me” (Joaquim Pinto, Spezialpreis der Jury), der von den eigenen Erfahrungen einer Aids-Erkrankung spricht. Oder die beiden japanischen Filme: “Tomogui” (Shinji Aoyama) und besonders “Real” (Kiyoshi Kurosawa).

Und weiter: “Letztlich ist der künstlerische Leiter nur Zuträger dessen, was das gegenwärtige Filmschaffen anbietet. Und vielleicht erwarten wir uns von einem kleinen Festival zu viel, da es mit Konkurrenten wie Venedig, Cannes oder Berlin zu tun hat.”

POSITIV

       Gare du Nord von Claire Simon. “Ein zauberhafter Film.”

NEGATIV

       Pays Barbare von Yervant Gianikian und Angela Ricci Lucchi (Italien).

       Une autre vie von Emmanuel Mouret (Frankreich) “Ein unverständliches und banales Melodram.”

Lob für Schweizer Film

Die Festivalausgabe 2013 hat die Kritik ganz offenbar gespalten. Dies gilt nicht so sehr für die durchwachsene Gesamtbilanz, als vielmehr für das Urteil über einzelne Filme. Es zeigt sich aber auch in den vielen negativen Reaktionen auf den Pardo d’Oro (Goldenen Leoparden) für Albert Serra.

Ein sehr gutes Beispiel ist auch der deutsche Wettbewerbsbeitrag “Feuchtgebiete”, der von Antoine Duplan als “niederträchtig, frauenfeindlich, abscheulich” bezeichnet wird, während Michael Sennhauser diesen Streifen für “unbedingt verteidigungswürdig” erachtet.

Ähnlich weit auseinander gehen die Meinungen über die italienisch-schweizerische Koproduktion “Sangue” (Blut) von Pippo Delbono mit dem Ex-Rotbrigadisten Giovanni Senzani. Auch hier teilt sich das Lager in entschiedene Kritiker und Bewunderer.

Einigkeit herrscht hingegen in Bezug auf die positive Bilanz des Schweizer Films in Locarno. Die Qualität wird durchwegs gelobt. Und das nicht aus Selbstgefälligkeit. “Wir hatten nie den Eindruck, dass die Schweizer Filme im Wettbewerb oder auf der Piazza Grande ausgewählt wurden, weil es sich um einheimisches Filmschaffen handelt. Das ist ein gutes Zeichen”, so Sennhauser.

Positiv

       Real von Kiyoshi Kurosawa (Japan). “Diesen Film kann man nicht erzählen, aber allen empfehlen.”

NEGATIV

       Sangue von Pippo Delbono (Italien).

       “Feuchtgebiete” von David Wnendt (Deutschland): “Ein kommerzieller Film, der im Wettbewerb nicht am Platz war. Beeindruckende Interpretation von Carla Juri.”

Rückkehr von Yves Yersin

Im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden gab es zwei Schweizer Beiträge, den Dokumentarfilm “Tableau Noir” von Yves Yersin sowie als Koproduktion mit Frankreich den Spielfilm “Mary, Queen of Scots” von Thomas Imbach.

“Tableau noir” wurde 2005 in einer ländlichen Primarschule des Kantons Neuenburg gedreht. Es ist ein fast perfektes, unterhaltsames und frisches Werk, mit dem einer der Väter des Schweizer Films, Yves Yersin, seine Rückkehr feiert.

Mit “Les Petites fugues” (1979) schrieb Yersin Geschichte. Bei der Vorführung waren denn auch die Emotionen des Publikums im Saal zu spüren. Der Regisseur sowie die mittlerweile erwachsenen Schüler und Lehrer erhielten einen lang anhaltenden Applaus. “Tableau noir” erhielt “für die genaue Beobachtung und den grossen Einsatz” aber nur eine besondere Erwähnung im Hauptwettbewerb – eine geringe Ausbeute für das Comeback von Yersin.

Etwas weniger zu überzeugen vermochte “Mary, Queen of Scots” des 51-jährigen Deutschschweizers Thomas Imbach. “Es braucht Mut, einen Kostümfilm mit einem geringen Budget zu drehen. Der Regisseur hat zwar versucht, mit der Kameraführung einiges zu kompensieren, aber insgesamt fehlt es an Charisma und die Inszenierung erscheint konfus”, kommentiert Duplan.

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Hoffnungsträger Bron und Baier

Auf der Piazza Grande feierte der Schweizer Film mit dem Dokumentarstreifen “L’Expérience Blocher” von Jean-Stéphane Bron seinen grossen Moment. Das intime Porträt der Leaderfigur der Schweizer Rechtsnationalen hat die politischen Journalisten zwar enttäuscht, weil sie sich eine wirkliche Neuheit erhofften, aber Bron hat sich mit diesem Film zweifellos als grösstes Talent der Schweizer Filmszene bestätigt.

“Bron ist der einzige auf der Welt, der im Bundeshaus einen Western gedreht hat (‘Mais im Bundeshuus’) und nun mit einer Ghost-Story auftrumpft, einem wirklich intelligent gemachten Film. Einfach perfekt”, meint Antoine Duplan.

Lob kommt auch vom Kritiker Aureliano Tonet (Le Monde): “Für einen Franzosen wie mich, der die Rolle dieses Politikers nicht genau kennt, war der Film sehr erhellend. Er hat bemerkenswerte künstlerische Züge, auch wenn die Naheinstellungen von einem in Szene gesetzten Blocher manchmal übertrieben sind.”

Bron war nicht nur als Regisseur in Locarno, sondern auch als Schauspieler in einem anderen “Schweizer Juwel”: Im Film “Les Grandes Ondes (à l’Ouest)” seines Kollegen und Freundes Lionel Baier. Der Film ist eine bissige Komödie, die wegen ihres Bezugs zur europäischen Krise durchaus ernsthafte Züge aufweist.

Auf der Piazza Grande und dem roten Teppich, der zum Podium führt, zeigten sich dieses Jahr erneut viele Stars der internationalen Filmszene. Doch die Anzahl der Auszeichnungen ist gemäss Kritikermeinung ausgeufert. Zudem führen die langen Preisverleihungen dazu, dass die Filme auf der Piazza Grande erst sehr spät beginnen.

Die Piazza Grande hat es aber offenbar auch dieses Jahr geschafft, ein breites Publikum anzulocken, auch wenn eingefleischte Filmfreaks über den einen oder anderen seichten Streifen auf der Grossleinwand die Nase gerümpft haben dürften.

Hauptwettbewerb “Concorso internazionale”:

Goldener Leopard, 90’000 Franken: “Historia de la meva mort” von Albert Serra, Spanien/Frankreich

Spezialpreis der Jury für den zweitbesten Film, 30’000 Franken: “E agora? Lembra-me” von Joaquim Pinto, Portugal

Silberner Leopardfür die beste Regie 30’000 Franken: Hong Sangsoo für “U ri sunshi”, Südkorea

Silberner Leopard für die beste Schauspielerin: Brie Larson für “Short Term 12” von Destin Cretton, USA

Silberner Leopard für den besten Schauspieler: Fernando Bacilio für “El Mudo” von Daniel und Diego Vega, Peru/Frankreich/Mexiko

– Besondere Erwähnungen:

* “Short Term 12” von Destin Cretton, USA

* “Tableau noir” von Yves Yersin, Schweiz

WEITERE AUSZEICHNUNGEN

Publikumspreis der Piazza Grande, 30’000 Franken: “Gabrielle” von Louise Archambault, Frankreich

Kleiner Leopard in Gold für den besten Schweizer Kurzfilm, 10’000 Franken: “A iucata” von Michele Pennetta

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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