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Eintauchen in die Geschichte des Kinos

Der Film "Die neue Wohnung" über den sozialen Aspekt des modernen Wohnens in den frühen 1930er-Jahren ist ein Teil der neuen Programmsektion "Histoire(s) du cinéma" in Locarno. swissinfo.ch

Das Filmfestival Locarno will nicht nur eine Plattform für den zeitgenössischen Film sein. Es hat sich auch zum Ziel gesetzt, Persönlichkeiten der Filmgeschichte zu ehren. Mit einer neuen Programmsektion. Ein Gespräch mit Festivalleiter Olivier Père.

Was haben modernes Wohnen im Europa der 1930er-Jahre und drei Strandschönheiten auf einem Streifzug durch Las Vegas gemeinsam? Seit diesem Sommer eine ganze Menge: Sie sind beide Teil einer neuen Sektion beim Filmfestival Locarno.

Mit “Histoire(s) du cinéma” will das Festival die Filmgeschichte wieder aufleben lassen und einen Scheinwerfer auf ausgewählte Werke jener Filmgrössen richten, die im jeweiligen Jahr mit Hommagen geehrt werden.

swissinfo.ch: Festivals sind Orte, an denen Neues entdeckt werden kann. Wie passt da ein zurückblickendes Element wie “Historie(s) du cinéma” ins Konzept?

Olivier Père: Ich glaube, das ist bereits seit langer Zeit eine der Besonderheiten des Filmfestivals Locarno. Seit wir grosse Retrospektiven machen, die wichtig sind, um der Geschichte des Kinos einen eigenen Ort bieten zu können.

Es braucht nicht nur die Neuheiten, die Entdeckungen, die Welt- oder internationalen Premieren – die logischerweise das Wichtigste für ein Festival sind – sondern auch eine filmhistorische Sektion mit Klassikern, mit Filmen, die zur Filmgeschichte gehören.

Wir bieten in Locarno immer eine grosse Retrospektive an, dieses Jahr ist sie Otto Preminger gewidmet. Aber wir hatten schon in der Vergangenheit immer wieder viele Restaurationen sowie Dokumentarfilme über das Kino selber.

Statt diese Filme verzettelt zu zeigen, wobei das Publikum nicht wirklich verstanden hätte, dass diese Spezialfilme Spezialprogramme sind, haben wir dieser Auswahl einen Titel gegeben. Als Ehrerbietung an Godard haben wir sie “Histoire(s) du cinéma” genannt.

Das heisst, dazu gehören alle Geschichten, die mit dem Kino zu tun haben. Die junge wie die alte Filmgeschichte, wie auch die aktuelle Geschichte der Schauspielerinnen und Schauspieler, die ihre neuen Filme in Locarno präsentieren.

swissinfo.ch: Woher kam die Idee schliesslich, dies zusammenzufassen?

O.P.: Wir haben bereits letztes Jahr zahlreiche Filme dieser Art gezeigt, hatten aber keinen Titel dafür gefunden. Wir wollten einen Titel in der Art von “Cannes Classics” beim Filmfestival Cannes, wo restaurierte Klassiker gezeigt werden, aber auch Dokumentarfilme über das Kino.

Zudem hatten wir dieses Jahr mehrere Dokumentarfilme über das Kino, die wir zeigen wollten. Es gibt Dokumentarfilme über Otto Preminger, Peter Kern, Ben Gazzara und Jean-Luc Godard zu sehen. Damit hatten wir bereits eine Gruppe von Filmen, die zusammen gezeigt werden mussten, weil das mehr Sinn machte.

Alles, was noch fehlte, war der Titel, und ich habe gemeinsam mit meinen Mitarbeitenden lange überlegt. Eines Tages dachte ich, warum nicht “Histoire(s) du cinéma”, mit einem S wie bei Godard? Da haben wir uns entschieden, diese Sektion einzuführen.

swissinfo.ch: Mit welchem Ziel haben Sie die Sektion aus der Taufe gehoben?

O.P.: Wir wollen Filme zeigen, die wir lieben, für das Publikum, das diese vielleicht noch nicht gesehen hat. Es geht um das Vergnügen, Filme erstmals zu sehen oder sie wiederzusehen.

Die Sektion hat aber auch eine pädagogische Dimension: Denken wir an die neuen Generationen von Kinofans, von Zuschauern, Jungen und weniger Jungen, die erstmals für die Filmgeschichte sehr wichtige Filme auf grosser Leinwand sehen können.

swissinfo.ch: Können Sie bereits kurz Bilanz ziehen, wie das Publikum diese neue Sektion aufgenommen hat?

O.P.: Das Publikum hat gut reagiert, weil bei den meisten Vorführungen die Regisseure anwesend waren. Ich weiss, dass der Dokumentarfilm über Peter Kern sehr gut gelaufen ist. Die restaurierte Fassung von “Twilight’s Last Gleaming” von Robert Aldrich als Weltpremiere fand auch grossen Anklang.

Ich habe noch keine genauen Zahlen, doch ist klar, dass dies eine Programmsektion ist, die viel von sich Reden gemacht hat. Es gab ein grosses Interesse von Seiten der Presse. Und das Publikum ist auch sehr interessiert. Beispielsweise an den italienischen Filmen mit Ornella Muti, Renato Pozzetto oder Alain Delon.

Ich denke, das ist eine Sektion, wo man Klassiker wiedersehen kann, oder seltenere und unbekanntere Filme. Beispielweise jene von Marco Ferreri: Für diese Filme mussten wir sogar zusätzliche Vorführungen einschieben, weil sie derart viel Publikum anlockten.

swissinfo.ch: Das heisst, diese neue Sektion wird in Locarno Bestand haben?

O.P.: So lange das Festival Locarno Schauspieler, Schauspielerinnen, Regisseure und Produzenten einladen will, denen es eine Hommage widmet, wird das der Fall sein. Ja, ich denke, diese Sektion hat eine Zukunft.

Der Name geht zurück auf ein Werk des französisch-schweizerischen Regisseurs Jean-Luc Godard, ein achtteiliges Videoprojekt, realisiert zwischen den 1980er-Jahren und 1998, in dem dieser auf die Filmgeschichte zurückblickte.

Rund 50 Filme werden in dieser Sektion des Filmfestivals gezeigt, darunter Klassiker und Werke, die Aspekte der Kinogeschichte thematisieren sowie wiederentdeckte Filme aus der Cinémathèque Suisse.

Neben den filmhistorischen Werken werden je mit einer Film-Auswahl geehrt: Sarah Morris, Renato Pozzetto, Naomi Kawase, Ben Wheatley, Peter-Christian Fueter, Ornella Muti, Harry Belafonte, Dino Risi, Johnnie To und Hannes Schmidhauser.

Geboren am 17. März 1971 in Marseille.

Der Franzose arbeitete als Filmkritiker und bei der Cinémathèque française. Später leitete er die Director’s Fortnight beim Filmfestival Cannes, wo er junge Filmschaffende, Entdeckungen und experimentelle Filme präsentierte.

Am 1. September 2009 wurde er künstlerischer Direktor des Internationalen Filmfestivals von Locarno. Die Ausgabe 2012 ist sein drittes Festival.

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