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Locarno 2010: Olivier Pères erster Auftritt

Olivier Père: Eine der schönen Eigenheiten Locarnos - es liegt am Wegkreuz verschiedener Kulturen. Festival del Film di Locarno

Der Franzose Olivier Père leitet zum ersten Mal das Filmfestival von Locarno. Der neue künstlerische Direktor hat dem Anlass bereits seinen Stempel aufgedrückt: Filmschaffen aufwerten, Programm reduzieren. Er lässt die Filme für sich selber sprechen.

Am 4. August beginnt das 63. Filmfestival Locarno, das bis zum 14. August dauert. Der neue, vom Festivalpräsidenten Marco Solari eingesetzte Direktor drückt sich sehr klar aus, was den “Pardo” (Leopard), wie die Tessiner ihr Festival nennen, betrifft.

swissinfo.ch: Paris, Sommer 2008. Marco Solari überzeugt Sie bei einem Teller Sauerkraut die Leitung des Festivals zu übernehmen. Wie haben Sie sich auf Ihr neues Umfeld eingestellt?

Olivier Père: Fabelhaft. Doch vorerst muss ich präzisieren, dass ich an jenem Sommertag in Paris kein Sauerkraut ass. Ich konnte Solaris Angebot ohnehin nicht ausschlagen, denn die offerierte Gelegenheit war einmalig. Nach meiner Zusage habe ich sofort die Festival-Crew kontaktiert. Alles ganz tolle Leute.

Was soll ich noch sagen? Der Austragungsort ist ausserordentlich. Locarno ist ein grosses Festival. Es ermöglicht mir, mich auszudrücken. Ich kann ihm meinen Stempel aufdrücken und gleichzeitig seine Tradition und Geschichte respektieren.

Es ist sehr anregend, ein derart schönes Festival zu leiten, das einem auch erlaubt, seine Visionen über den Film zu verwirklichen. Ich hoffe, der Anlass wird Filmfreunden gleichermassen wie Zuschauern, Autoren und Schauspielern gefallen.

swissinfo.ch: Mehrmals unterstrichen Sie, dass Ihre Leitung von Locarno Ihre Weiterarbeit am “Quinzaine des Réalisateurs” von Cannes nicht ausschliesst. Was läuft in diesem Bereich?

O.P.: Alles läuft gut. Die Projekte nehmen Form an. Die Änderungen, um Nutzen und Annehmlichkeit des Festivals noch zu erhöhen, sind gut aufgenommen worden. Auch Kontakte auf professioneller Ebene mit Regisseuren, Produzenten und Verteilern verlaufen äusserst zufriedenstellend.

Die neue Filmauswahlgruppe arbeitet bestens. Und die neuen internationalen Kontakte erweisen sich als sehr positiv. Glücklicherweise bin ich erst nach sechs Jahren Erfahrung in Cannes nach Locarno gekommen. Cannes hat mir viel von dem gegeben, was mir heute ermöglicht, Locarno als neue Herausforderung gelassen und überzeugt anzugehen.

swissinfo.ch: Was die Reduktion verschiedener Festivalsektionen betrifft….

O.P.: …ich wollte vor allem die Anzahl der gezeigten Filme reduzieren. Ein Festival muss einen Nutzen haben und jedem Film ein möglichst gutes Schaufenster offerieren. Werden zuviele Streifen ins Programm genommen, erhält der einzelne Film zu wenig Beachtung. Man kann dann von Kritikern, Profis und Publikum nicht mehr verlangen, die Werke mit der benötigten Aufmerksamkeit zu begleiten.

Es schien mir auch notwendig, selektiver zu sein. In einer Filmschau wie jener von Locarno sollten nicht das Publikum oder die Kritiker eine eigene Auswahl unter einem riesigen Filmangebot treffen müssen. Es ist der Job des künstlerischen Direktors, eine Erstauswahl aus den rund 2000 visionierten Streifen zu treffen.

swissinfo.ch: Welches sind dabei die wichtigsten Schwerpunkte?

O.P.: Gemäss den Kriterien Prägnanz, Originalität und Innovation schien es mir wichtig, mich auf drei Schwerpunkte zu konzentrieren. Piazza Grande und die zwei Wettbewerbe, der internationale und jener der Gegenwarts-Cineasten.

Bei den letzten beiden ist die Unterscheidung klarer geworden. Am internationalen Wettbewerb werden entweder die Werke bekannter Filmer oder ausserordentliche Filme gezeigt. Am Gegenwarts-Cineasten-Wettbewerb wird es Raum für Entdeckungen und für den Nachwuchs geben.

Auf der Piazza Grande kommen Filme aus der ganzen Welt zur Aufführung. Platz also für schweizerische, US-, europäische und asiatische Produktionen. Auch die in Locarno immer angebotene Retrospektive bleibt wichtig. Dem Publikum soll leichter ermöglicht werden, Referenzpunkte zu setzen.

swissinfo.ch: Die Beziehungen zwischen Locarno und dem Schweizer Film waren immer heikel. Wie haben Sie bei den bestehenden Empfindlichkeiten Ihre Netze geknüpft?

O.P.: Möglichst einfach und sachlich. Ich bin überzeugt, dass Locarno ein wichtiges Schaufenster für den Schweizer Film ist. Am besten gelingt dies, wenn man die Schweizer Produktionen in alle Sektionen des Festivals verteilt.

Auf diese Weise müssen sich die Schweizer Produktionen mit den internationalen messen. Die wichtigen Leute des Schweizer Films haben dies sehr gut begriffen.

Für meinen Erstanlass habe ich Glück. Dieses Jahr ist die Produktion von Schweizer Filmen gut verteilt. Ich bin glücklich, in Locarno einige schöne Werke zeigen zu können.

swissinfo.ch: Wie steht es mit der Italianità? Diese ist ja in Locarno immer ein wichtiger Aspekt.

O.P.: Ich habe diesen Aspekt immer im Auge – nicht nur weil ich selbst piemontesische Wurzeln habe. Beim diesjährigen Festival wird die Italianità in verschiedenen Versionen in den Filmvorschlägen dabei sein.

Eine der Qualitäten des Locarneser Festivals ist ja gerade diese Mehrsprachigkeit, diese verschiedenen Kulturen und Länder.

Die Internationalität des “Pardo” muss weiterentwickelt werden, doch bleibt eine starke Verbundenheit mit Italien, Frankreich und Deutschland.

swissinfo.ch: Wirkt es für einen Franzosen wie Sie stimulierend, an einer solchen Wegkreuzung zu arbeiten?

O.P.: Sicher. Ausserhalb Frankreichs zu arbeiten und in einem Land wie der Schweiz mit all seinen Eigenheiten zu ankern, wirkt schon herausfordernd. Das gefällt mir. Ein künstlerischer Direktor muss aus meiner Sicht offen sein für Entdeckungen, Unterschiede, Reisen und Begegnungen.

swissinfo.ch: Marco Solari sagte von Ihnen, Sie seien ein mysteriöser Mensch.

O.P.: (lachend) Der Herr Präsident übertreibt. Ich spreche nicht viel, das stimmt schon. Meine Rolle besteht hauptsächlich darin, mich um die künstlerischen Inhalte der Filme zu kümmern und heraus zu finden, welche Filme dies am besten zustande bringen.

Als künstlerischer Leiter muss – will – ich die Filme zum Sprechen bringen, und mich selbst möglichst aus dem Scheinwerferlicht nehmen.

swissinfo.ch: Und was können wir diesen August glamour-mässig erwarten?

O.P.: Was den Glamour betrifft, kann sich Locarno weder mit Cannes noch mit Venedig messen. Wir haben auch keine Mittel dazu. In Locarno wurde immer das Menschliche und Volksnahe vorgezogen.

Was aber nicht heisst, dass auf Glamour ganz verzichtet werden muss. Schauspielerinnen und Schauspieler sind ja ein Teil des Filmspektakels, das auch in Locarno geschätzt und gefeiert wird. Wir lieben doch unsere Filmstars und Sterne. Und über dem Himmel Locarnos sind sie immer willkommen.

Françoise Gehring, swissinfo.ch, Locarno
(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle)

Père ist am 25. September 2008 zum künstlerischen Direktor des Filmfestivals Locarno nominiert worden.

Der 1971 in Marseille geborene Franzose studierte an der Pariser Sorbonne Literatur.

Er stiess zur Cinéthèque française, wo er 1995 Programm-Verantwortlicher wurde.

Dort organisierte er zahlreiche Hommages und Themen-Ausstellungen.

1996 ging er parallel dazu eine lang dauernde Zusammenarbeit mit dem Filmfestival Entrevues von Belfort (Retrospektiven) ein.

Ab 1997 wurde er Mitarbeiter bei der kulturellen Wochenzeitung “Les Inrockuptibles”, wo er in den Bereichen Film, TV und DVD publizierte.

2004 bis 2009 war er Delegierter des “Quinzaine des Réalisateurs” von Cannes, einer eigenständigen Sektion innerhalb des Festivals von Cannes, das von der Société des Réalisateurs de Films organisiert wird.

Das diesjährige Festival ist das erste, das die Handschrift von Père trägt.

Es werden 290 Filme gezeigt, statt 400 Filme wie im Vorjahr.

Welt-Vorpremieren wird es 50 geben (das gab es noch nie in Locarno!), und rund 20 Erstlinge.

Im internationalen Wettbewerb werden 18 Filme aus der ganzen Welt gezeigt. Und zwei Schweizer Filme bewerben sich um den Goldenen Leopard.

Der Excellence Award geht an Chiara Mastroianni.

Zwei Ehren-Leopards gehen an Alain Tanner und den Chinesen Jia Zhang-ke.

Die Tessiner Regierung sieht das Filmfestival von Locarno als “verteidigungswertes Kulturgut”.

Ihr Beitrag wird deshalb für die Periode 2011 bis 2015 um 10% (250’000 Franken) erhöht.

Ab 2010 erden noch jährlich 2,5 Mio. Franken bezahlt.

Festivalpräsident Marco Solari hat an den Bund und die Wirtschaft appelliert, zu spenden, weil die Finanzsituation des kleinsten der grossen Filmfestivals immer fragiler werde.

Heute beläuft sich das Budget auf 11,1 Mio. Franken.

Um kostenmässig ins Gleichgewicht zu gelangen, mussten in den letzten Jahren die Reserven aktiviert werden.

Diese Strategie kann natürlich nicht ewig weitergehen.

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