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Zürcher “Individual-Anarchist” in Hamburg

Tausendsassa Dieter Meier: "Solange man spielt, gibt es keinen Zweifel." Keystone

Mit "Yello" wurde Dieter Meier in den 1980er-Jahren weltberühmt. Doch der Schweizer Künstler ist weit mehr als die treibende Stimme des Popduos. Eine grosse Ausstellung in den Deichtorhallen Hamburg zeigt sein vielfältiges Werk.

Professioneller Pokerspieler, Performer, Musiker, Mischpult-Hersteller, Filmemacher, Winzer und Rinderzüchter: Dieter Meier ist ein Tausendsassa. Der gebürtige Zürcher mit Wohnsitzen in Los Angeles, Argentinien und Ibiza hat sich in vielen Genres ausprobiert und als Künstler immer wieder Neuland beschritten.

In den Popcharts der 1980er-Jahren

Seine absurden Aktionen im öffentlichen Raum sorgten in den 1970er-Jahren für Aufsehen in der internationalen Kunstszene; etwa, als er in New York jedem Passanten für ein ausgesprochenes “Yes” oder “No” einen Dollar bezahlte.

In den 1980er-Jahren eroberten Dieter Meier und Boris Blank mit “Yello” die Popcharts; Meiers skurril-witzige Videoclips dazu haben das Genre massgebend geprägt.

Ebenso voller Witz aber weniger bekannt sind seine fotografischen Arbeiten: zum Beispiel “As Time goes By” aus den Jahren 1974 und 2005, wo der Schweizer mit dem markanten Kinn in wechselnde Rollen schlüpft, sich selber fotografiert und die zur Figur passende Lebensgeschichte erzählt.

Führung mit Meier persönlich

Die Vielfalt von Dieter Meiers Schaffen haben die Deichtorhallen Hamburg dazu bewogen, dem Schweizer eine grosse Ausstellung zu widmen. Gezeigt wird “Works 1969 – 2011 and the Yello Years” in der Sammlung Falckenberg, einer Dependance des Museums im Stadtteil Harburg, deren Besuch nur innerhalb von Führungen möglich ist.

An diesem Abend Mitte Juli leitet Dieter Meier persönlich durch die Werkschau. Eine gut 20-köpfige Gruppe schart sich um den 66-Jährigen. Meier, wie gewohnt mit dunklem Jackett und Seidenhalstuch, das ergraute Haar sorgfältig nach hinten gegelt, schaut in die gespannten Gesichter – und stapelt als erstes tief: “Ich weiss ja gar nicht wie das geht, so eine Führung. Und dann noch über meine eigenen Werke – das ist besonders schwierig.”

Vergnügtes Schmunzeln der Besucher. Doch Meier meint es ernst. “Bestimmt nehmen Sie alles, was ich Ihnen heute Abend erzähle, viel zu wichtig.” Dabei staune er selber immer wieder, was für Dinge aus ihm heraus entstanden seien. “Das geschah ohne mein Wollen”, versichert er. “Ich wollte nie Kunst schaffen.”

Etwas Unsinniges machen

Auch wenn dem “Individual-Anarchisten”, wie er sich gern nennt, eine künstlerische Laufbahn tatsächlich fern lag – der Schweizer hat seine Aktionen von Anfang an präzise und sorgfältig dokumentiert.

Die mit Schreibmaschine getippten Anleitungen und grossformatige Fotografien der Auftritte machen einen grossen Teil der Hamburger Schau aus, hinzu kommen Experimentalfilme, Fotoserien, Tonaufnahmen und Videoclips von “Yello”.

Kuratiert hat die Ausstellung, die noch bis zum 11. September dauert, der Zürcher Publizist und Literaturkritiker Stefan Zweifel; im kommenden Winter soll sie auch in Karlsruhe zu sehen sein.

Eine der ersten wandfüllenden Fotografien zeigt Dieter Meier im Jahr 1969, wie er Metallteile in Säckchen packt. Es war das erste Mal, dass er öffentlich in Erscheinung trat. Auf dem Heimplatz in Zürich zählte Meier während fünf Tagen täglich acht Stunden lang jeweils 1000 Schrauben in Säckchen ab. Jedem Sack legte er einen Zettel mit seiner Entstehungszeit bei.

“Die Leute waren sehr irritiert und versuchten, meiner Tätigkeit irgendeinen Sinn abzugewinnen”, erzählt Meier. Dabei bezweckte er genau das Gegenteil. “Ich wollte etwas vollkommen Unsinniges machen. Etwas, was einfältig ist, was jeder kann.”

Flucht ins Pokerspiel 

Mit dem Sinn seines Tuns hat Meier lange gehadert. Denn aufgrund seiner Herkunft aus einer wohlhabenden Bankiersfamilie war er nie gezwungen, etwas tun zu müssen, um zu überleben. Segen und Fluch zugleich. “Ich habe mich als junger Mensch fast verrückt gemacht mit dem Anspruch, etwas ganz besonders Bedeutsames zu machen – eben weil ich ja nichts tun musste”, sagt der Vater von vier Kindern.

Meier flüchtete sich vor diesem Druck in die Welt des Pokerspiels, war mehrere Jahre spielsüchtig. Solange man spiele, sei man “busy surviving”: “Mit jedem neuen Blatt hat man ein neues Leben in der Hand. Solange man spielt, gibt es keinen Zweifel.”

Fussspur des Lebens

1976, nach seiner ersten Einzelausstellung in Zürich, kehrte Meier der Kunstwelt den Rücken. “Dieses Rennen um Erfolg, dieser Zwang, etwas produzieren zu müssen, war nicht meins”, sagt er.

Lieber erfand er sich neu. Meier tingelte mit der Punkband “Assholes” durch Clubs, brüllte in seltsamen Sprachen ins Mikrofon und liess sich von Bierflaschen bewerfen – bis er den Soundtüftler Boris Blank traf. Die Erfolgsstory “Yello” begann. Das Video zu “Pinball Cha Cha” aus dem Jahr 1982 flimmert in Hamburg über eine grosse Leinwand. Aus dem Lautsprecher dröhnt Meiers typischer Sprechgesang:

“Come on closer

See me play

The sensational game

It’s the only thing I’ve got in my life.”

Der treibende Rhythmus des fast 30 Jahre alten Songs bringt manche Besucher an diesem Abend zum Mitwippen. Dieter Meier verweilt einen Moment vor der Leinwand. “Ich bin ja nur Gast in Boris’ phänomenalen Klangbildern”, sagt er. “Ich erfinde kleine Figuren und gebe meine Stimme ab.”

Da ist sie wieder, die Tiefstapelei des Tausendsassa. Vielleicht sein bewährter Kniff, um sich allzu grossen Erwartungen zu entziehen. Vielleicht auch ein Stück Lebensphilosophie. Wie hat Meier zu Beginn der Führung gesagt? “Die ausgestellten Dinge hier sind nicht so wichtig. Sie geben einfach einen Eindruck über die Fussspur meines Lebens.”

Ausstellungen (Auswahl):

2010 En Passant, Grieder Contemporary Projects, Berlin

2009 Faces&Phrases, Jamileh Weber Gallery, Zürich

2008 Le Rien en Or, Inner City Zürich, Hamburg

2007 El Monte Dorado, Museum Tinguely, Basel

Spielfilme:

2001 Lightmaker (Berlinale 2001)

1981 Jetzt und Alles (Film Festivals Taormina, Manila)

Bücher (Auswahl):

2011 Oskar Tiger (Kinderbuch, erscheint im September)

2006 Hermes Baby (Ammann Verlag)

Videos für andere Künstler (Auswahl):

1990 Scandalo Gianna Nannini

1984 Big in Japan, Alphaville

1982 Da da da, Trio

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