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Karge Konzentration aufs Wesentliche

Giorgio Orellis Stimme ist verstummt, aber seine Worte werden bleiben. Keystone

Der bedeutende Tessiner Literat Giorgio Orelli, der am Sonntag im Alter von 92 Jahren verstorben ist, gilt als einer der wichtigsten italienischsprachigen Lyriker der Nachkriegszeit. Auch seine Übersetzungen von Goethe-Gedichten aus dem Deutschen ins Italienische gelten als herausragend.

Giorgio Orelli war ein genauer Beobachter. Seine Poesie formte er aus der Alltäglichkeit seiner Umgebung. In die wenigen Zeilen seiner Gedichte vermochte er Inhalte zu packen, die weit über das Ausgesprochene hinaus reichten. Er wollte mit wenigen Worten viel Erreichen, sich mit kargen Mitteln und einer essenziellen Sprache auf das Wesentliche konzentrieren.

Mit seiner Lyrik hat er an die grosse italienische Tradition von Dante und Petrarca bis Saba und Montale angeknüpft. Er vermochte es stets, die Stoffe in seine Heimat einzubetten, oft auch in die ländliche Welt des Tessins, die mittlerweile Geschichte ist.

Der Schriftsteller Giovanni Orelli, Cousin von Giorgio, brachte es so auf den Punkt: “Er vergeudete die Wörter nicht, er hatte ein unglaublich feines Gehör für die Poesie.”

Toskaner aus der Schweiz

Am gestrigen Sonntag ist die Stimme von Giorgio Orelli verstummt. Er verstarb im Alter von 92 Jahren in seinem Wohnort Bellinzona. Bleiben werden seine Worte und Schriften, seine Analysen als Literaturwissenschaftler und seine Übersetzungen. Für seine sprachlichen Fähigkeiten wurde er sogar als “Toskaner aus der Schweiz” bezeichnet.

Geboren wurde Orelli 1921 in Airolo, er besuchte das Collegio Papio in Ascona. Nach dem Literaturstudium in Freiburg übersiedelte er nach Bellinzona, wo er an der dortigen kantonalen Handelsschule, später auch am Gymnasium bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1986 unterrichtete.

Seine ersten Gedichte entstanden bereits während des Zweiten Weltkriegs, als Lugano ein Zentrum der italienischen Exilliteratur war. 1944 erhielt er für “Né bianco né viola” (Nicht weiss und nicht violett) den Premio Lugano.

Übersetzungen von Goethe und Hölderlin

Er schrieb fortan Gedichte, Sachbücher und Essays. Wichtige Werke sind: “L’ora del tempo” (1962), “Sinopie” (1977), “Spiracoli” (1989) und “Il collo dell’anitra” (2001). Zudem machte er sich als Übersetzer vom Deutschen ins Italienische einen Namen. Seine Übertragungen von Gedichten von Goethe in die italienische Sprache gelten bis heute als genial. Zwei Bände mit Gedichten erschienen. Die Neue Zürcher Zeitung spricht von einem “herausragenden Übersetzer”.

Orelli bewegte sich im Dreieck Lyriker-Übersetzer-Literaturkritiker.  Er verglich beispielsweise die Übersetzungen von Hölderlins berühmten Gedicht “Hälfte des Lebens”, um dann eine eigene und neue Übersetzung zu präsentieren.

Orelli genoss nicht nur im heimatlichen Tessin, sondern in der ganzen Schweiz und insbesondere  in Italien grosses Ansehen.  Er publizierte bei italienischen Verlegern. Seine sechs Gedichtbände erschienen zwischen 1944 und 2001, mit Ausnahme des letzten, in der berühmten Mondadori-Reihe “Gli specchi”.

und schon hat die Amsel den Bach überflogen,
oh, kommt und beschaut sie.
Petrarca, cv, 21 f

Gewiss einer Amsel der schwarze
Strauss Blumen und rot
da vom Tod überrascht im kurzen
Dunkel des Tunnels
am Tag darauf riesiger
Falter, schwarz und mit roten Punkten,
keine Spur von Orangengelb
am dritten in Schuppen
sich blätternde Kruste
Ekzem des Asphalts
am vierten, fast blütenlos,
Sonnenblume, Schab-
eisen des Schornsteinfegers

niemals verschwunden

so dass mir über den Randstein
der Strassen- und Totenkehrer, in Eiligst-
Verwandlungen kundig,
noch von anderen Neuigkeiten erzählen
konnte
          und eines Morgens
schien alles langsam zu Asche zu werden
doch im Hauch der zurück-
kehrenden Nebel eiterte es noch immer
von Weiss berührt flogen Feder-
bälle im Zickzack hin zu den dünn-
fädigen Regenfällen des beginnenden
Frühlings

Sagt es den Amseln auf dem Marmor
des Winters bevor noch
die Teufelsblumen den Schnabel
vermehren, Azaleen irr
reden

Werke in deutscher Sprache

Viele dieser Werke wurden ins Deutsche übersetzt. 1998 erschien unter dem Titel “Rückspiel” im Limmat Verlag eine umfangreiche Auswahl seines Schaffens. 2008 folgte der Band “Sagt es den Amseln/Ditelo ai merli” (Vgl. rechte Spalte). In diesem Band findet sich auch das Gedicht, von dem er sagt, dass es eines seiner liebsten und ureigensten sei.

Er spricht in diesem Gedicht von einer toten Amsel, die auf der Strasse zermalmt wurde und dort langsam verwest. Das kommentierte er so: “Diese Verwandlungen, dieses sich stets ändernde Rennen hin zur Unsterblichkeit, diese sich immer wandelnde Illusion einer Unsterblichkeit, dieses Sterben und Nicht-Sterben, dieses Fortdauern der Überreste, dies ist ein grossartiges Thema (…).”

Der Limmat Verlag wird voraussichtlich im Dezember den einzigen Prosatext Orellis in deutscher Sprache veröffentlichen:  “Ein Tag unseres Lebens”, der auf Italienisch bereits 1960 unter dem Titel “Un giorno della vita” publiziert worden war. Lange hatte er sich gegen eine Übersetzung dieses Textes gesträubt.

„Ruhm wie Wolken am Himmel“

Giorgio Orelli erhielt viele Auszeichnungen und Preise, insbesondere 1988 den Grossen Schillerpreis und 2001 den Premio Chiara. Schon 1979 verlieh ihm die Universität Freiburg den Ehrendoktor. Er selbst fand Ranglisten und Auszeichnungen allerdings nicht wichtig. “Ruhm und Ehre gehen vorbei wie Wolken am Himmel“, sagte er in einem Interview mit swissinfo.ch aus Anlass seines 90. Geburtstags.

Giorgio Orelli gehörte zweifelsfrei zu den grossen Poeten  im Tessin des 20. Jahrhunderts. Und er arbeitete trotz seines hohen Alters. Das Verhältnis zu seinem Heimatkanton war allerdings zuletzt gespalten. Er lobte nach wie vor die Naturschönheiten, zeigte sich aber kritisch gegenüber der gesellschaftlich-politischen Entwicklung.

Im erwähnten Interview erklärte er 2011: “Wenn ich an die verschlossene Mentalität und die weit verbreiteten Ängste in meinem Kanton denke, überkommt mich eine grosse Traurigkeit, auch wenn ich mir nichts anmerken lasse.” Das Tessin seiner Vorfahren, die nach Frankreich emigrieren oder in der Deutschschweiz arbeiten mussten, sei offener gewesen.

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