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Standhaft, rebellisch, authentisch: Luigi Snozzi war ein innovativer Querdenker

Luigi Snozzi
"Es gibt nichts zu erfinden, alles ist wieder zu er-finden." Der Tessiner Architekt Luigi Snozzi, aufgenommen 1996, war ein innovativer Querdenker. Keystone / Str

Er zählte zu den Erneuerern der Tessiner Architektur und war auch ein einflussreicher Theoretiker. Luigi Snozzi ist am 29. Dezember im Alter von 88 Jahren an den Folgen einer Coronavirus-Infektion gestorben.

Dem weitschweifigen Zerreden von Architektur gegenüber war er abgeneigt. Dies zeigen seine Aphorismen, die Luigi Snozzi in den siebziger Jahren verfasst und leicht verändert 2013 in Buchform veröffentlicht hat. Die emblematischen Text-Bilder sind ein Schlüssel zu den Leitlinien des architektonischen Schaffens von Luigi Snozzi, der 1932 in Mendrisio geboren wurde. Sie illustrieren sein Weltbild und behielten während der langen Zeit seiner Bau- und Lehrtätigkeit stets ihre Gültigkeit.

Zum Thema “Geduld in der Architektur” hat Luigi Snozzi zwar keinen Spruch formuliert, doch Geduld wurde ihm reichlich abverlangt. So wurde das von ihm 1993 entworfene, aus einem 100 Meter langen Bürohaus und einem turmförmigen Sitzungstrakt bestehende kantonale Bau- und Umweltamt in Bellinzona erst 2014 fertiggestellt.

Die grossen Fensteröffnungen des halbovalen Turmbaus blicken auf die Anlage des Castel Grande. Ins Blickfeld rücken dadurch “Ruinen”, die – so Snozzi – das bewahren, was nach dem Ende funktionaler Zweckdienlichkeit des Gebauten als Baukunst und Baukultur überzeitlich sichtbar bleibt.

“Es gibt nichts zu erfinden, alles ist wieder zu er-finden”, meinte Snozzi lakonisch, wobei er den Schwerpunkt auf das Finden legte. Zur Gruppe der sich auf formale Ästhetik kaprizierenden Architekten gehörte der Tessiner Architekt, der in Locarno und in Lausanne Büros hatte, jedenfalls nicht.

Die Besonderheit des Einzelbaus sollte sich immer in das Ganze der “città” und ihrer Bewohner einbetten. Demgemäss praktizierte Snozzi Architektur als eine Aufgabe, welche die Öffentlichkeit ebenso mit einbindet wie die sozialen Aspekte. Das verdeutlicht sein 1977 in Angriff genommenes Hauptwerk und Langzeitprojekt: die Neustrukturierung des zersiedelten Tessiner Dorfes Monte Carasso und die Erneuerung von dessen Dorfkern.

Kloster
Das alte Kloster von Monte Carasso wurde Dank Snozzi zum neuen Ortskern. Flautor , Wikimedia

Für das Territorium

“Weiche der Verantwortung nicht aus. Setze dich mit der Form auseinander, in ihr wirst du den Menschen wiederfinden”, lautete einer seiner Aphorismen. Wen Luigi Snozzi aus der Gesamtheit aller Menschen herausheben wollte, machte er ebenso deutlich: “lo sfruttato”, den Ausgebeuteten.

Diese Perspektive spiegelte die politische Haltung des Architekten und sein soziales Engagement wider, das mit dem Übergang der fünfziger in die sechziger Jahre seinen Anfang nahm. Es war die Zeit, in welcher der junge Tessiner Architekt mit dem 1957 erhaltenen Diplom der ETH Zürich in der Tasche in seiner Heimatregion tätig wurde und Weichen stellte, um die zeitgenössische Tessiner Architektur in neue Bahnen zu lenken.

Nach Praktika bei den beiden grossen Architekten Peppo Brivio und Rino Tami arbeitete Luigi Snozzi von 1962 bis 1968 zusammen mit Livio Vacchini in einer Bürogemeinschaft. Einen ersten grossen Auftrag bildete das 1965 zusammen mit Livio Vacchini erbaute Bürohaus “Fabrizia” in Bellinzona.

Casa Kalmann
Die in den 1970ern erstellte Casa Kalman. Wojciech Kaczura, Wikimedia

Entwürfe für Einfamilienhäuser wie die Casa Kalman in Brione (1976) und die Casa Bianchetti in Locarno Monti (1977) zeigen, auf welche Weise Snozzi Gebäude in Bezug zur Topografie setzte. Wiederholungen eines erkennbaren Baukörper-Typus vermied der Architekt, indem er die Geometrie der klassischen Baumoderne (Le Corbusier) neu erfand und variabel dem Ort anpasste.

Anstösse erhielt der Tessiner Jungarchitekt damals auch von der Formensprache des italienischen Razionalismo. Dabei hielt er sich an seine eigene Zielvorstellung, Architektur vom kulturell und geschichtlich geprägten Territorium her zu denken und dieses Territorium als Gegenentwurf zur “blind” zugebauten Landschaft zu gestalten. Stadt- und Landschaftsplanung als Gegenmodell zu entwerfen, bedeutete zwangsläufig, gegen gesetzliche Normen und Planauflagen zu verstossen.

Gegen die Spekulation

Die Idealvorstellung, dass Architektur viel mehr können muss, als “nur” Bedürfnisse zu erfüllen, wurde zur Antriebsfeder der Neuen Tessiner Architektur. Luigi Snozzi war ein wichtiger Impulsgeber in der Zeit des Aufbegehrens gegen das Zubetonieren der Schweizer Sonnenstube und wurde zum einflussreichen Theoretiker der Tessiner Schule um Mario Botta, Aurelio Galfetti, Ivano Gianola und Livio Vacchini.

1975 verschaffte die an der ETH Zürich präsentierte Ausstellung “Tendenzen. Neue Architektur im Tessin” dem kritischen Regionalismus der jungen Tessiner Architekten schlagartig internationales Ansehen. Für Luigi Snozzi jedoch blieben Bauaufträge aus dem Ausland rar. Erstmals 1997 wurde in Deutschland (Hamburg, Akademie der Künste) eine Werkausstellung des Tessiners gezeigt. 2010 würdigte die EPF in Lausanne mit der Ausstellung “Luigi Snozzi – Prof. d’Architecture” sein Wirken für Ausbildung und Lehre.

Aufrecht und zuweilen unerbittlich praktizierte Snozzi ein Berufsverständnis, welches Bau- und Stadtplanungsentwürfe, politisch-soziales Engagement und die Kritik an einer Architektur, die den Interessen weniger dient, vereint. “Wenn sich eines Tages die Diplomierten einer Architekturschule nicht mehr in den Büros verwerten lassen, dann wird die Schule einen grossen Schritt nach vorne gemacht haben”, lautete einer seiner querdenkerischen Sätze. Er selbst hat auch im Ausland seine Lehrtätigkeit ausgeübt und mahnte die junge Architektengeneration: “Jeder Eingriff setzt eine Zerstörung voraus, zerstöre mit Verstand und mit Freude!”

Ende Jahr ist der grosse Tessiner im Alter von 88 Jahren an den Folgen einer Coronavirus-Infektion gestorben.

Dieser Artikel erschien zuerst bei der Neuen Zürcher ZeitungExterner Linkund wurde hier mit freundlicher Genehmigung publiziert.

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