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Auf den Spuren eines “touristischen Werbers” des 19. Jahrhunderts

1863: Wir stehen am Beginn des Massentourismus in der Schweiz. Der britische Fotograf William England reist in die Schweiz und erfasst mit modernsten fotografischen Techniken die Wunder des Alpenlandes, dessen Städte und Menschen. Es ist ein durchschlagender Erfolg. 2019: Das digitale Zeitalter boomt. Der Tessiner Künstler Alan Alpenfelt beschliesst, die gleiche Reise wie William England zu unternehmen. Mit fortschrittlichen audiovisuellen Aufnahmewerkzeugen kreiert er ein Kunstprojekt, das zeigt, wie sich die Schweiz in 156 Jahren verändert hat.

Es waren die Briten, die dem Schweizer Tourismus die Türen öffneten. Zu Beginn des 18. und 19. Jahrhunderts reisten Wissenschaftler in die Schweiz. Anschliessend kamen die Abenteurer, welche die Berge für das pure Vergnügen besteigen wollten, um die Alpen zu bezwingen (ein Hobby, das in den Augen der damaligen Einheimischen absurd wirken musste). 1857 wurde in London der Alpine Club, der erste Verein von Bergsteigern, gegründet.

Die therapeutischen Eigenschaften von Bergluft, Alpenquellwasser, Milchserum und Schweizer Thermen wurden auch in den Londoner Salons schnell bekannt. 1858 leitete Thomas Cook die erste Gruppenreise durch Kontinentaleuropa. Die Schweiz war bereits ein Muss.

Der Ausbau der Transitwege, der einer breiten Öffentlichkeit den Zugang zur bezaubernden Alpenwelt ermöglichte, erledigte den Rest: Die Schweiz wurde zu einem beliebten Reiseziel.

Ein vergessener Riese

Aber es gibt keinen Tourismus ohne Tourismusförderung. Heute konsultieren wir das Web, um Schönheiten entfernter Orte zu sehen. Die britische Bourgeoisie hingegen vertraute auf Fotos. Insbesondere ab Mitte des 19. Jahrhunderts gewann die stereoskopische Fotografie an Bedeutung. Bei dieser werden zwei Bilder in leicht unterschiedlichen Winkeln aufgenommen. Wenn man dann diese durch spezielle Objektive betrachtet, hat man die Illusion, ein dreidimensionales Bild zu sehen.

Und hier kommt William England ins Spiel, ein Spezialist für diese hochmoderne Technologie, die er mit zu entwickeln half. Heute gilt England unter Experten als “vergessener Riese” der Fotografie des 19. Jahrhunderts, aber damals war seine Arbeit ein unglaublicher Erfolg und machte ihn zu einem der wichtigsten Mitglieder der London Stereoscopic CompanyExterner Link.   

Freches Marketing

Im Jahr 1863 reiste William England in Begleitung seiner Frau und einiger Helfer durch die Schweiz, Frankreich, Italien und Savoyen, um eine Serie von Fotografien zu erstellen. Diese Landschaften waren eines seiner erfolgreichsten Werke und machten den Eindruck, sie seien “unter der Schirmherrschaft des Alpenvereins” erstellt worden (“Under the special patronage of the Alpine Club”), was nichts anderes war als eine Marketingtechnik zur Umsatzsteigerung.

Der Alpenverein selbst wusste in der Tat nichts darüber und als er die Aufschrift entdeckte, zwang er England, den Wortlaut in “mit Erlaubnis, dem Alpenverein gewidmet” zu ändern (By permission, dedicated to the Alpine Club). 

Unabhängig von der verwendeten Täuschung waren seine Fotografien sehr erfolgreich und trugen dazu bei, in der kollektiven Vorstellung eine idyllische Darstellung der Schweiz zu schaffen, die auch heute noch von Tourismusveranstaltern genutzt wird.

Aber wie hat sich die Schweiz in 156 Jahren verändert? Um diese Frage zu beantworten, trat der Tessiner Künstler Alan Alpenfelt in die Fussstapfen von William England und versuchte, genau die Orte zu finden, an denen der Brite seine Fotos machte.

Collage
Der Rosenlaui Gletscher 1863 (Foto von William England) und 2019 (Foto von Alan Alpenfelt). tvsvizzera

“Die Fähigkeit, die langfristigen Auswirkungen menschlicher Tätigkeiten auf die Umwelt zu verstehen und anzugehen, ist ein immer dringenderes Problem. Die Beobachtung unserer Geschichte durch Bild und Ton ist ein nützliches Instrument, um das Bewusstsein für das empfindliche Gleichgewicht zwischen Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit zu schärfen”, heisst es auf der Website von Alpenfelts ProjektExterner Link, Binaural Views of Switzerland, das von Pro HelvetiaExterner Link, der Oertli StiftungExterner Link und der Stiftung für Radio und Kultur SchweizExterner Link unterstützt wird.

Keiserpanorama
An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde das “Keiserpanorama” genutzt, um exotische Orte mit stereoskopischen Aufnahmen zu zeigen. Alan Alpenfelt hat eine ähnliche Konstruktion erstellt, die vom 14. November bis 5. Dezember 2019 in der Architekturakademie in Mendrisio gezeigt wird. web public domain

Audiovisuelles Projekt

Der Tessiner reiste ausschliesslich mit öffentlichen Verkehrsmitteln an etwa dreissig Orte, die von England verewigt wurden. Dort konnte er die Veränderungen nicht nur sehen, sondern auch hören. Wir vergessen oft die Klangdimension, wie die Welt heute, im Vergleich zur Zeit vor 150 Jahren, vom Lärm durchdrungen ist.

Mit diesen Überlegungen im Kopf entschied sich Alpenfelt, sein Projekt in drei Richtungen zu entwickeln.

Die erste ist der Bau eines “Kaiserpanoramas”, das im November an der Akademie für Architektur an der Universität der italienischen Schweiz in Mendrisio eingeweiht wird. Die Besucher können die stereoskopischen Fotos von William England aus dem 19. Jahrhundert betrachten, während sie gleichzeitig den “binauralen” Ton (eine Methode zur 360-Grad-Audioaufzeichnung) hören, der 2019 an den gleichen Orten aufgenommen wurde. Eine Möglichkeit, uns mit einer Realität zu konfrontieren, die wir normalerweise lieber vermeiden, ob bewusst oder unbewusst.

Die für das Projekt vorbereiteten Trailer sind eine weitere Möglichkeit, zu beobachten, ob und wie stark sich die Landschaft verändert hat.

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Die Erfahrungen von Alpenfelt auf den Spuren Englands werden sodann in eine Radiodokumentation voller Sounds und Interviews mit Experten aus den Bereichen Fotografie und Tourismusförderung umgesetzt. 

Die neueste Entwicklung ist bereits öffentlich zugänglich. William Englands stereoskopische Fotografie kann in gewisser Weise als Vorläufer der heutigen 360-Grad-Fotografie angesehen werden. Die 360-Grad-Fotos, die Alpenfelt an den von dem Briten vor 156 Jahren besuchten Orten gemacht hat, sind bereits in Google Street View zu finden. Fröhliches Suchen! *

Blick auf das Wetterhorn, Grindelwald, Kanton Bern (Juli 2019)

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*Wenn Sie es eilig haben, finden Sie viele dieser Bilder und die entsprechenden Fotos von William England hierExterner Link.

(Übertragung aus dem Italienischen: Sibilla Bondolfi)

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