Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Berufslehre: wertvolle Vorbereitung auf Arbeitswelt

Auch Theorie gehört dazu: Lehrlinge bei der Firma Studer AG in Thun. swissinfo.ch

Joel Zwahlen fabrizierte einst in der Schule seine eigene Uhr, jedes kleinste Teilchen stellte er selber her: Schon damals war er an Metallarbeit interessiert. Nun hat der 15-Jährige eine Lehre als Polymechaniker angefangen.

Drei Tage pro Woche nimmt Zwahlen um sechs Uhr in der Früh den Zug von seinem Wohnort Münsingen ins nahegelegene Thun, wo er seit kurzem eine Berufslehre bei der Studer AG, Marktleader für Rundschleif-Maschinen für die Autoindustrie, absolviert.

Neben Zwahlen haben bei der Firma Studer 74 weitere junge Leute ihre Lehre begonnen. In der ganzen Schweiz sind es 232’000, die sich anstelle einer Vollzeit-Schule für eine Ausbildung in einem Lehrbetrieb entschieden haben.

Das Angebot für Lehrstellen in der Schweiz ist riesig, es reicht von Büroarbeit über Stellen als Metzger, Bauarbeiter bis hin zu Elektriker und vielem mehr.

Der Weg zu einer Anstellung

Gemäss dem Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) bietet die schweizerische Lehrlingsausbildung “zwei Drittel aller jungen Menschen in der Schweiz eine solide Grundlage für eine bestimmte Berufsgattung”.

Schweizer Regierung, Kantone und professionelle Organisationen beaufsichtigen gemeinsam das Programm, das schulische mit praktischer Ausbildung kombiniert und Lehrlingen direkten Zugang zu Arbeitsplätzen oder zu Weiterbildung bietet.

“Eine der bedeutendsten Eigenschaften dieses dualen Systems ist die Verbindung von Lernen am Arbeitsplatz und in der Schule”, sagt Barbara Stalder, Assistenzprofessorin am Institut für Arbeits- und Organisationspsychologie der Universität Neuenburg.

“Diese Kombination ist einzigartig und wird von den Lehrlingen sehr geschätzt. Viele von ihnen, welche die obligatorische Schulzeit hinter sich haben, haben genug vom Schulbetrieb und wollen in die Arbeitswelt eintreten. Zudem hat dieses System eine sehr tiefe Arbeitslosenquote zur Folge.”

Flexibilität

In der Flexibilität der schweizerischen Lehrlingsausbildung für junge Leute sieht Michael Kraft einen grossen Vorteil. Kraft ist Jugendberater beim Schweizerischen Kaufmännischen Verband, der den grössten Lehrlingssektor betreut.

“Die Regierung hat die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen karrierebildenden Erfahrungen erhöht”, sagt Kraft. “Dass man verschiedene Institutionen und Ausbildungsmöglichkeiten durchlaufen kann, ohne bereits mit 15 Jahren entscheiden zu müssen, wie die exakte Laufbahn aussieht, ist ein grosser Erfolg der letzten Jahrzehnte.”

Die 18-jährige Deborah Sigrist hat bei Studer eben ihr letztes Lehrjahr als Kauffrau begonnen. Zwei Tage in der Woche besucht sie die Schule, was “gerade genügend” sei. Die restliche Zeit arbeitet sie bei Studer: Sie organisiert Termine, nimmt telefonische Anrufe von Kunden aus aller Welt entgegen und erlernt das ganze Umfeld der Geschäfte.

“Die Idee, keine Praxiserfahrung zu haben, erschien mir irgendwie unklug. Deshalb beschloss ich, meine Ausbildung mit einer Lehre zu beginnen”, sagt Sigrist. “So kann ich wirklich mit Leuten arbeiten und muss nicht nur die Schulbank drücken.”

Wenn sie im Juli 2013 ihre Lehre abschliesst, stehen ihr verschiedene Möglichkeiten offen. Mit ihrem Diplom kann sie direkt in die kaufmännische Berufswelt einsteigen. Sie kann aber auch weiter zu Schule gehen und die Berufsmaturität machen und später an einer Hochschule weiterstudieren. Deborah Sigrist habt im Sinn, die Berufsmaturitätsschule zu besuchen.

Angebot und Nachfrage

Gemäss Roger Leuenberger, Laufbahn-Berater bei Studer, ist die Nachfrage nach kaufmännischen Lehrstellen hoch, während jene in den technischen Berufen weniger begehrt sind. Arbeitspsychologin Barbara Stalder sieht in der Frage von Angebot und Nachfrage eine zunehmende Herausforderung für die schweizerische Lehrlingsausbildung.

“Meiner Ansicht nach gibt es eine wachsende Kluft zwischen Lehrlingen handwerklicher Ausrichtung, wo die Nachfrage nach Lehrstellen eher tief ist, und dem Informatik- und kaufmännischen Sektor, wo die Lehrstellen begehrt sind”, sagt Stalder.

“Es ist eine riesige Herausforderung, diese Ausbildungs-Programme der Nachfrage auf dem Markt, aber auch den Bedürfnissen der jungen Leute und ihren Interessen anzupassen.”

Die Rolle der Unternehmen

Beim Schweizerischen Kaufmännischen Verband betreut Kraft eine Telefonhotline für Lehrlinge, Geschäftsführer und Eltern, die Fragen rund um die kaufmännische Lehrlingsausbildung haben. Gelegentlich stellt er dabei fest, dass die Erwartungen der Lehrlinge mit dem Angebot der Ausbildungsstätten nicht übereinstimmen.

“Manchmal denke ich, man müsste dafür sorgen, dass allen Unternehmen bewusst ist, dass sie sich für eine Karriere und einen persönlichen Entwicklungsprozess verpflichten, wenn sie einen Lehrling einstellen”, sagt Kraft. “In 90% aller Betriebe klappt das bestens, in den übrigen etwas weniger gut.”

Bei der Studer AG sind die Lehrlinge, laut Aussagen von Leuenberger, stark in den alltäglichen Arbeitsprozess der Firma einbezogen. Zudem können sie sich zwei Mal wöchentlich betriebsintern theoretisches Wissen aneignen. Im dritten und vierten Lehrjahr arbeiten die meisten von ihnen an den aktuellen Schleifmaschinen, die an Kunden verkauft werden. Einige von ihnen haben auch Gelegenheit, Kunden im Ausland zu besuchen.

“Auf diese Weise sind die Lehrlinge in den Arbeitsprozess integriert, und wir geben ihnen viel Verantwortung”, erklärt Leuenberger. “Sie kontrollieren ihre Arbeit selber, es ist nicht so, dass ihnen ständig jemand über die Schulter guckt – das ist ein wichtiger Schritt. Nicht nur der spezielle Lehrgang zählt, sondern der Aufbau von Selbstvertrauen und Selbsterkenntnis ist ebenso wichtig.”

Gemäss dem Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) beteiligen sich 30% aller Schweizer Betriebe an Lehrlings-Programmen.

Die 10 beliebtesten Lehren aus dem Jahr 2010 in Zahlen:

Kaufmann/-frau 11’970

Detailhandelsfachmann/-frau 5720

Handelsmittelschul-Diplomand/in mit Berufsmaturität 4470

Fachmann/-frau Gesundheit 3130

Fachmann/-frau Betreuung 2560

Koch/Köchin 2100

Elektroinstallateur/in 2070

Polymechaniker/in 1750

Informatiker/in 1690

Zeichner/in 1640

(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft