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Lawinengefahr lauert neben den Pisten

Eine Lawine bei Evolène im Kanton Wallis forderte 1999 zahlreiche Todesopfer. Keystone

"Grundsätzlich ist viel Schnee positiv", sagt Hans-Jürg Etter vom Institut für Schnee- und Lawinenforschung im Interview mit swissinfo. Gefährlich seien dünne, windgepresste Schneeschichten.

swissinfo: Die Schneemassen locken auf die Skipisten. Dort lauern aber auch Gefahren. Wie lautet Ihre Lawinen-Prognose für dieses Wochenende?

Hans-Jürg Etter: Die Lawinengefahr lauert nicht auf, sondern abseits der Pisten, beim Variantenfahren und beim Tourengehen. Dort ist die Lawinengefahr zur Zeit verbreitet erheblich. Das wird sie auch am Wochenende bleiben.

Im Moment haben wir starke Nordwinde, das führt zu neuen Ansammlungen von Triebschnee. Daher ist die Lawinengefahr am Sonntag in den Voralpen erheblich und im Prättigau und Unterengadin mässig.

swissinfo: Welche Regionen sollte man besser meiden?

H. E.: Die Regionen, die viel Schnee bekommen haben, wie das Mattertal, das Saastal, das Goms und das Simplongebiet. Dort hat es am meisten verfrachteten Schnee abseits der Pisten.

swissinfo: Bedeutet viel Schnee auch viel Gefahr?

H. E.:. Viel Schneemasse ist an sich günstig, weil dann der Schnee im Verhältnis zum Schneesportler mehr wiegt. Gefährlich sind dünne, windgepresste Schneeschichten, Triebschnee. Weil zur Zeit die Triebschneeansammlungen bis weit in die Hänge hineinreichen, ist dort in den nächsten Tagen noch besondere Vorsicht angebracht.

swissinfo: Nach welchen Kriterien bestimmen Sie das Lawinen-Risiko?

H. E.: Wir haben im schweizerischen Alpengebiet rund 150 Beobachter, die uns täglich über Internet Infos über Schneemenge, Temperatur, Wind und abgegangene Lawinen schicken. Aufgrund dieser Informationen und der Beurteilung der Lawinengefahr durch die Beobachter machen wir uns ein Gesamtbild und geben die entsprechenden Warnungen hinaus.

swissinfo: Trotz aller Warnungen gibt es immer wieder risikobereite Wintersportler, die mit ihrem Verhalten sich selbst und andere in Gefahr bringen. Was kann man dagegen tun?

H. E.: Das beste sind Vorbild-Schulungen. Gut ausgebildete und vorbereitete Snowboarder, Variantenfahrer und Skifahrer, die ihr Metier gut kennen, sind optimale Guides, um die jungen Schneesportler anzusprechen. Allerdings ist es schwierig, Leute zu sensibilisieren, die prinzipiell Gefahren ignorieren und unbedingt die ersten in den frisch verschneiten Hängen sein wollen.

swissinfo: Diese Woche waren Bahnlinien und Strassen im Obergoms und im Bedrettotal gesperrt. Wie kommt es zu solchen Entscheidungen?

H. E.: Im Gespräch mit den Beobachtern vor Ort. Nicht wir vom Institut für Schnee- und Lawinenforschung sperren die Strassen, sondern die Leute vor Ort, die ihre Gebiete gut kennen. Wir geben nur Empfehlungen. Es spielt eine Rolle, ob bereits Lawinen abgegangen sind, wie die Hänge geladen sind und wie der Wind bläst.

Aufgrund dieser Daten schätzen wir ab, ob Lawinen möglicherweise bis ins Tal vordringen könnten. Oberhalb der Simplonstrasse sind die meisten dieser gefährlichen Gleitschneelawinen bereits abgegangen. Deshalb kann die Strasse wieder geöffnet werden.

swissinfo: Manchmal werden Lawinen künstlich ausgelöst. Können diese auch Schaden anrichten?

H. E.: Dies geschieht vor allem zur Sicherung der Schneesportgebiete. Gesprengt wird periodisch. Dabei darf man nicht warten, bis wieder schönes Wetter ist und die Lawinen in grossem Ausmass abstürzen können. Indem man portionenweise sprengt, versucht man die Lawinen klein zu halten.

swissinfo: Was passiert, wenn eine Situation falsch eingeschätzt wird und Menschen von einer Lawine verschüttet werden?

H. E.: Es gibt eine straf- und zivilrechtliche Untersuchung. Wahrscheinlich wird ein Gutachten angefordert. Für den Richter ist es entscheidend, ob der zuständige Gemeindepräsident alles getan hat, was möglich war, um die Gefahr zu erkennen und zu eliminieren. Oder ob in grobfahrlässiger Weise Massnahmen unterlassen wurden. Dann kann es zu einer Verurteilung kommen.

swissinfo: Im Jahr 1999 herrschte aufgrund enormer Schneefälle in den Alpen eine extreme Lawinensituation. Rund 800 Lawinen gingen nieder. In Evolène starben 12 Personen wegen Lawinenniedergängen. Inwiefern lässt sich die heutige Lage mit damals vergleichen?

H. E.: Am letzten Wochenende war die Situation im Simplongebiet, dem Saastal und dem Mattertal fast so dramatisch wie damals. Allerdings haben wir jetzt nicht diesen schlechten Schneedeckenaufbau und diese enormen Schneemengen, die für die Ortschaften hätten gefährlich sein können, wie damals in Evolène.

Die Gemeinden Saas, Simplon und Zermatt haben alles getan, um ein solches Unglück zu verhindern: Sie haben periodisch Lawinen gesprengt und Strassen gesperrt.

swissinfo: Können Sie abschätzen, wie dieser Winter weiter verlaufen wird?

H. E.: Grundsätzlich ist der viele Schnee nur positiv. Wie wir aus unseren Schneedeckenuntersuchungen am Alpennordhang, in den niederschlagsreichen Gebieten und am Alpensüdhang gesehen haben, hat sich der Schnee gut gesetzt. Ich blicke optimistisch in die Zukunft.

Wenn nicht ausserordentliche Verhältnisse unsere Einschätzung über den Haufen werfen, können wir mit einem guten Winter im Sinn eines günstigen Schneedeckenverlaufs rechnen.

swissinfo: Heisst das viel Schnee bei kleinem Lawinenrisiko?

H. E.: Im Moment sieht es so aus. Das Lawinenrisiko hängt zwar auch von den neuen Niederschlägen ab, aber das Fundament ist jetzt gut.

swissinfo, Susanne Schanda

In weiten Teilen der Schweiz und vor allem der Alpen liegen gemäss SF Meteo für die Jahreszeit überdurchschnittlich viel Schnee. Vom Matterhorn über die Furka bis zum Lukmanier seien es drei bis viermal soviel Schnee wie Mitte Dezember üblich. Stellenweise sei die Schneedecke fast vier Meter dick.

Viel Schnee lag am Donnerstagmorgen auch in den Niederungen. In Langnau im Emmental auf rund 750 Metern über Meer lagen 46 Zentimeter Schnee. 43 Zentimeter lagen in Gstaad und Châteaux d’Oex.

Bern verzeichnete mit 38 Zentimetern Schnee die bei weitem höchste Gesamtschneehöhe für den Monat Dezember, teilten MeteoSchweiz und das Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie mit.

Für den Wochenanfang erwarten die Meteorologen trockenes Wetter mit Temperaturen um Null Grad Celsius. In der Wochenmitte – Heilig Abend – könnte eine Nordströmung kältere Luft in die Schweiz blasen.

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