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Parlamentswahlen voller Fallstricke

Demokratie braucht auch eine korrekte "Hardware": Die Wahlurnen müssen internationalen Standards entsprechen. AFP

Erstmals seit 60 Jahren wählen die Libyer am 7. Juli ihr Parlament frei. Doch bleiben Unsicherheiten wie der Wildwuchs der Milizen, Fundamentalisten oder Separatisten. Damit ist der noch fragile Staat bisher nur schlecht zurechtgekommen.

Seit dem Fall von Muammar Gaddafi im Herbst 2011 haben in Tripolis wie auch in anderen libyschen Städten die Entführungen zugenommen. Sie gehen auf bewaffnete Gruppierungen zurück, die heute meist aus Söldnern bestehen.

Wie lässt sich dem ein Ende setzen, fragen sich zahlreiche libysche Bürger, beunruhigt durch die Präsenz dieser Milizen, deren Einfluss im Fall von freien Wahlen geschwächt würde.

Ursprünglich auf den 19. Juni angesetzt, sind die Wahlen auf den 7. Juli verschoben worden, um noch mehr Bürgern zu ermöglichen, sich in die Wählerlisten einzutragen. Laut Beobachtern war dieser Aufschub notwendig, um den Wahlen selbst einen besseren Erfolg zu garantieren.

Diese Meinung teilt auch der Chef der libyschen Wahlkommission, Nouri Khalifa El-Abbar, gegenüber swissinfo.ch: “Das Verschieben der Wahlen hat sich als nützlich erwiesen. Die Anzahl der Eingeschriebenen übertrifft nun 2,8 Millionen Personen, das heisst 75% der Stimmberechtigten.” Allein die Frauen stellen 47% der Bevölkerung dar, die an der Wahl teilnimmt.

Transitions-Parlament

Es geht um die Wahl eines 200-köpfigen Übergangs-Parlaments. 80 Sitze werden von Vertretern von Parteien und politischen Instanzen beansprucht, 120 Sitze von unabhängigen Kandidaten. Eine Verteilung, die zu zahlreichen Spannungen innerhalb der an den Wahlen beteiligten Akteure geführt hatte.

Ist die neue Legislative einmal gewählt, wird der noch bestehende Nationale Übergangsrat unter dem Vorsitz von Moustafa Abdeljalil aufgelöst. Das neue Parlament wird einen Rat der Weisen bestimmen, der aus 60 Mitgliedern besteht und der eine Verfassung auszuarbeiten hat. Diese wird dann einem Referendum unterstellt.

Der Wahlkampf hat sich in einem Umfeld abgespielt, das von diskriminierenden Aktivitäten gekennzeichnet ist, sowohl von Seiten der Revolutionäre als auch von Seiten der Fundamentalisten.

Die Revolutionäre möchten verhindern, dass Politiker und Technokraten aus dem alten Regime sich erneut aufstellen lassen. Doch die libysche Zivilgesellschaft sowie die internationalen Menschenrechts-Organisationen haben dies nicht goutiert. Die Fundamentalisten wiederum versuchen, die Frauen aus dem Parlament zu verbannen.

Anders als in Tunesien

Die Übergangsperiode ist also nicht problemfrei verlaufen. Nicht zu vergleichen mit den Wahlen im Nachbarland Tunesien vom vergangenen Oktober. Diese erlaubten die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, die auf einem Kompromiss zwischen den grossen politischen Gruppen beruht.

In Libyen hingegen haben die Wahlen zu einem zähen Ringen zwischen unabhängigen Kandidaten und Politikern geführt, wobei jede Gruppierung auf die grösstmögliche Anzahl an Parlamentssitzen aus ist.

“Die Herausforderung bei den libyschen Wahlen ist eine nationale, nicht eine politische”, sagt Mahmoud Jibril gegenüber swissinfo.ch. Jibril führt die Koalition von nationalen Kräften an, die über 60 Parteien umfasst. Das erkläre auch, weshalb möglichst alle nationalen Kräfte im Parlament vertreten sein wollten.

Finanzielle Transparenz

Was die Finanzierung der Wahlkampagne betrifft, so Jibril, sei Transparenz unumgänglich. Er werde der Wahlkommission vorschlagen, sie solle verlangen, dass alle politische Instanzen ihre finanziellen Quellen offenlegen.

Viele libysche Politiker finden, dass diese Finanzierung zu 100% libysch sein müsse. Nationale Kräfte sollten nicht von ausländischen Fonds unterstützt werden. Damit seien wohl einige Golfstaaten gemeint, schätzt Jibril.

Es gibt aber noch andere Befürchtungen, was die kommenden Wahlen betrifft, wie die bisher im Land nicht bekannte Praxis der “unheiligen” Allianz zwischen politischen Instanzen und Organisationen der Zivilgesellschaft, sagt Mohamed El-Allagui gegenüber swissinfo.ch. Er ist Vorsitzender des Nationalen Rats für Menschenrechte.

Schwieriger Eintritt in Klub der Demokratien

40 Jahre Diktatur haben das Land jeglicher demokratischer Tradition beraubt. Das Wiedererlernen gestaltet sich umso schwieriger, als über den Wahlen auch noch das Gespenst des Separatismus schwebt.

Häufige Aufrufe zur Gründung einer Föderation lassen an das ehemalige Vereinigte Königreich Libyen denken. Damals war das Land aus drei Regionen zusammengesetzt: Cyrenaika, Fezzan und Tripolis.

Diese Aufforderung zur Abspaltung wird verschlimmert durch das Aufkommen von Islamistengruppen im Osten, vor allem in Bengasi und Derna. Diese Gruppen drängen auf eine Einführung der Scharia. Um auf sich aufmerksam zu machen, organisieren sie äusserst aggressive Militärparaden.

Noch schlimmer: Gewisse Separatistengruppen verlangen für ihre Städte im Osten dieselbe Anzahl Sitze im Parlament wie für die Städte im Westen, obschon im Osten viel weniger Leute leben.

So gestaltet sich der Eintritt Libyens in den “Klub” der Demokratien nicht ohne Schmerzen. Ein Gelingen der Parlamentswahlen hängt ab von der Fähigkeit des Landes, der teils von Gewalt begleiteten Divergenzen Herr zu werden.

Der Bund unterstützt die politische Transition Libyens zu einer Demokratie, in Koordination mit der Mission der UNO an Ort.

Für die Wahlen hilft die Schweiz via dem Programm der Vereinten Nationen für die Entwicklung beim Bereitstellen von Urnen, die den internationalen Standards entsprechen.

Im Bereich der Transition zur Demokratie und Menschenrechten unterstützt die Schweiz:

1. die Ausbildung der Zivilgesellschaft bezüglich Wahlen durch einen Workshop des Geneva Institute for Human Rights (GIHR), welcher der Zivilgesellschaft (wie auch Regierungsvertretern) Grundlagen zur zivilen Wahlbeobachtung Anfang Mai vermittelt hat

2. einen Workshop für die Trainerausbildung zur Wählerbildung von der UN Support Mission in Libyen (UNSMIL), dem International Institute for Democracy and Electoral Assistance (IDEA) und der nationalen Vereinigung der Pfadfinder (Public Scout and Girl Guides Movement of Libya PSGGM)

Die Schweiz hat keine Wahlbeobachter nach Libyen entsandt, aber Vertreter der Schweizer Botschaft werden die Wahlen als diplomatische Beobachter observieren.

Für 2012 hat die Schweiz einen Betrag von 2,23 Mio. Franken für Libyen vorgesehen, das meiste davon für die Unterstützung der politischen Transition. 

(Quelle: Eidg. Departement für auswärtige Angelegenheiten)

Unter den in Libyen arbeitenden Organisationen ist das Genfer Centre for Humanitarian Dialogue zu nennen, das auch von der Schweiz mitgetragen wird.

Die Organisation hat an Ort regionale Dialoge zur Frage des Wahlrechts und der Justiz organsiert.  

Auch ist im Mai eine nationale Debatte über die neue Verfassung aufgegleist worden, sagte Centre-Mitarbeiter Kenny Gluck gegenüber swissinfo.ch.

(Übertragung aus dem Arabischen: Ghania Adamo)

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