Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen
#LocarnoCloseUp

Locarno 74: Die Rückkehr der Grossleinwand

Luftaufnahme der Piazza Grande
La Piazza Grande, die grösste Open-Air-Leinwand der Welt: In diesem Jahr ist der Zugang auf Personen mit einem Covid-Impfpass beschränkt. In den meisten anderen Kinos ist der Impfpass jedoch nicht zwingend vorgeschrieben - die Zuschauer müssen jedoch die Distanzregeln einhalten und drinnen Masken tragen. (c)fotopedrazzini.ch

Das Locarno Film Festival ist immer für Überraschungen gut, aber die diesjährige Ausgabe ist in doppelter Hinsicht einzigartig: Es sind nicht nur die Covid-19-Massnahmen, die allem einen anderen Charakter verleihen. Es wird auch die erste Ausgabe sein, die von Giona A. Nazzaro kuratiert wird, der eine wandelnde Enzyklopädie des Kinos und Experte für Actionfilme ist.

Diese 74. Ausgabe, die morgen beginnt, wird als “sicheres Festival” angepriesen. Was bedeutet, dass man nur mit einem Covid-19-Impfzertifikat, einen Nachweis über eine frühere Infektion oder einen PCR-Test daran teilnehmen kann. Damit soll das Hauptziel des neuen künstlerischen Direktors Giona A. Nazzaro gewährleistet werden: die sichere Rückkehr zum Kinoerlebnis.

Denn es ist nicht nur die Pandemie, die das Publikum zu Hause vor den kleinen Bildschirmen gefesselt hat. Die Filmindustrie und die Art und Weise, wie wir Filme sehen, werden durch radikale Veränderungen in Produktion und Vertrieb in Frage gestellt.

Das Aufkommen von Streaming-Diensten als wichtige Akteure in allen Aspekten der Filmproduktion, ist nur eine der Veränderungen, wie Nazzaro unlängst in einem Interview mit SWI swissinfo.ch erläutert hat.

Mehr
Giona Nazzaro

Mehr

“Nostalgie ist nicht erlaubt”

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Der künstlerische Leiter des Locarno Film Festival, Giona Nazzaro, wirft einen Blick in die Zukunft der Filmindustrie.

Mehr “Nostalgie ist nicht erlaubt”

Der Marathon

In 10 Tagen werden 209 Filme am Festival von Locarno gezeigt. Der Filmmarathon, der den Festivalbesucherinnen und -besuchern bevorsteht, beginnt schon bei der Auswahl der Filme. Hier sind einige der Perlen, die das Festival dieses Jahr zu bieten hat.

“Beckett”: Der Film, der die Sitzungen auf der Piazza Grande eröffnet, ist schon jetzt einer der am meisten erwarteten – und ein kühner Schachzug mit Nazzaros sehr persönlicher Handschrift.

Dieser italienische Thriller wird seine Weltpremiere auf der grössten Freilichtbühne der Welt feiern, gut eine Woche vor der für den 13. August geplanten Veröffentlichung auf Netflix.

Mehr

Mehr

Newsletter

Melden Sie sich für unsere Newsletter an und Sie erhalten die Top-Geschichten von swissinfo.ch direkt in Ihre Mailbox.

Mehr Newsletter

Filmproduktionen von Streaming-Plattformen sind auf prestigeträchtigen Festivals immer noch ein Tabu – Cannes zum Beispiel hat sich gegen solche Filme gewehrt. Nazzaro lässt sich jedoch nicht von Traditionen einschränken.

Schreckliche Fantasien

Science-Fiction, Dystopien und Katastrophen fallen im Programm besonders auf. Und widerspiegeln die sozialen Bewegungen auf der ganzen Welt und eine Zeit, in der die Covid-19-Pandemie und die Klimakrise die Schlagzeilen beherrschen.

Besonders hervorzuheben ist der experimentelle Animationsfilm “Mad God” (USA), für den sein Schöpfer, Phil Tippett, 30 Jahre gebraucht hat. Tippett ist ein Meister der visuellen Effekte und wird auch für zwei seiner Meisterwerke geehrt: “Robocop” (1987) und “Starship Troopers” (1997), beide unter der Regie von Paul Verhoeven.

Science-Fiction ist nicht unbedingt futuristisch. Wir leben bereits in einer Welt, die in den Science-Fiction-Filmen und -Comics der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts mit erschreckender Voraussicht erdacht wurde.

Szene aus dem mit Spannung erwarteten Film Hinterland
Mit Spannung erwartet: Die Weltpremiere von “Hinterland”, dem expressionistisch gefärbten Krimi des österreichischen Filmemachers Stefan Ruzowitzky, der 2008 mit “Die Fälscher” den Oscar für den besten fremdsprachigen Film gewann. Locarno Film Festival

Die aktuellen Dystopien sind sprach- und kulturübergreifend, wie die Filme “Sinkhole” (Sing-keu-hol, Südkorea), “After Blue” (Paradis Sale, Frankreich), “Free Guy” (USA), “The Sacred Spirit” (Espíritu Sagrado, Spanien), “From the Planet of the Humans” (Italien) und “Zeroes and Ones” des umstrittenen amerikanischen Regisseurs Abel Ferrara (bekannt durch “Bad Lieutenant” und “King of New York”) zeigen.

In Ferraras Werk gibt es keine stilisierte Gewalt. In den 1980er und 1990er Jahren lösten seine realistischen und schockierenden Darstellungen der Drogen- und Sexunterwelt (er begann seine Karriere mit Hardcore-Pornos) zusammen mit weiteren “schädlichen Videos” im Vereinigten Königreich eine moralische Gegenreaktion aus, die zu einer Verschärfung von Auflagen führte. Heute ist Ferrara reingewaschen. Er ist Buddhist und ein Amerikaner im Exil in Rom, wo er seit fast 20 Jahren lebt. Er wird auch in Locarno sein.

Kein Kinderspiel

Im multikulturellen Programm des Festivals fehlt jedoch eine Zutat, nämlich das japanische Kino. Um dies zu kompensieren, ehrt Locarno den japanischen Anime-Schöpfer Mamoru HosodaExterner Link, indem es drei seiner Filme zeigt – darunter seinen neusten, “Belle” – und den ersten Locarno Kids Award verleiht.

Aber lassen Sie sich nicht täuschen! Hosodas Kunst ist kein Kinderspiel. Hosoda, der um die Jahrhundertwende mit den DigimonExterner Link-Filmen zu Weltruhm gelangte, leitet heute sein eigenes Studio und ist einer der angesehensten Schöpfer im Anime-Universum.

Leider wird Hosoda nicht anwesend sein, um seinen Preis entgegenzunehmen, aber die Liste der namhaften Gäste ist dennoch bemerkenswert. Der diesjährige Ehrengast ist John Landis, ein Regisseur, der die amerikanische Komödie wiederbelebte und die Karrieren vieler Berühmtheiten wie John Belushi (“National Lampoon’s Animal House”, 1978) und Dan Aykroyd mit der Anthologie “The Blues Brothers” (ebenfalls mit Belushi, 1982) ins Rollen brachte. Landis verhalf Eddy Murphy mit “Trading Places” (mit Aykroyd, 1983) und “Coming to New York” (1988) zu Ruhm.

Aber er ging auch weit über die Komödie hinaus. Erinnert sich noch jemand an “The Twilight Zone”? Landis’ Filmografie umfasst unter anderem auch Dokumentarfilme, Musikvideos und Horrorfilme für das Fernsehen.

Alte und neue Meister

Hollywood und das US-Kino sind also sehr gut vertreten. Ein hochkarätiger Gast wird aber auch der rumänische Regisseur Radu Jude sein, der dieses Jahr mit “Bad Luck Banging or Loony Porn” den Goldenen Bären, den wichtigsten Preis der Berliner Filmfestspiele, gewonnen hat.

Radu Jude erhält den Goldenen Löwen in Berlin.
Der rumänische Regisseur Radu Jude erhielt im März in Berlin den Goldenen Bären. Er bringt auch einen Kurzfilm für die Sektion “Corti d’autore” nach Locarno mit. Keystone / Axel Schmidt

In Locarno wird Judes neuester Kurzfilm, “Caricaturana”, zu sehen sein, der uns zwar nur neun Minuten seines Genies beschert. Aber daneben wird er mit seiner guten Laune und seinen geistreichen Einsichten über Kino und Politik auf dem Festival präsent sein.

Ein weiterer fester Bestandteil von Locarno ist die Retrospektive (mit grossem R: immer eine gute Gelegenheit, das Werk eines grossen Regisseurs oder wichtige Momente/Bewegungen der Filmgeschichte zu entdecken oder wiederzuentdecken). In diesem Jahr hat sich Nazzaro dafür entschieden, eine umfassende Auswahl der Werke von Alberto LattuadaExterner Link ins Rampenlicht zu stellen.

Noch nie von ihm gehört? Kein Problem. Lattuada ist ein in Vergessenheit geratener Held des italienischen Kinos, aus dem gleichen Lager wie all die anderen Kultregisseure, die wir lieben, wie Fellini, Antonioni, Monicelli usw.

Porträt des Regisseurs Marco Bellocchio
Marco Bellocchio ist einer der Regie-Veteranen, die einen Kurzfilm für den Wettbewerb “Corti d’autore” einreichen. Locarno Film Festival

Die internationalen Wettbewerbe erstrecken sich über alle Kontinente und Dutzende von Sprachen; Kurzfilme, die von etablierten Regisseuren in der neuen Sektion Corti d’autoreExterner Link (Kurzfilme von Autoren) gedreht wurden; Hommagen an Persönlichkeiten des europäischen Films und an die Anfänge des Kinos (“Safety Last!”, 1923, mit dem Komödiengenie Harold Lloyd).

Und dann gibt es eine knallharte Herausforderung für knallharte Cineasten: der portugiesische Film “Pathos Ethos Logos”, der eine Ewigkeit von 10 Stunden und 41 Minuten läuft. Aber keine Sorge, er wird in drei Teilen gezeigt.

Es ist schwierig, die Kuriositäten und Schätze, die Locarno zu bieten hat, in einem Artikel zusammenzufassen. Verfolgen Sie darum unsere Berichterstattung über das Festival und halten Sie sich auf dem Laufenden über die Trends, Neuheiten, Debatten sowie die kritischen Bewertungen des Teams von swissinfo.ch und der Locarno’s Critics AcademyExterner Link.

Das sind 10 junge Film- und Medienkritiker aus der ganzen Welt, die ausgewählt wurden, um tief in die Filmwelt einzutauchen. Dieses Jahr kommen sie aus Vietnam, Rumänien, Ungarn, Brasilien, Chile, der Dominikanischen Republik, Grossbritannien und der Schweiz.

Schalten Sie ein und folgen Sie uns auf #LocarnoCloseup! (auch auf Instagram Externer Linkund FacebookExterner Link)

Illustration

Mehr

#LocarnoCloseUp

Hautnah dabei am Locarno Film Festival. Schalten Sie sich zu unter #LocarnoCloseup!

Mehr #LocarnoCloseUp

Marc Leutenegger

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft