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Long-Covid-Forschung: Wo steht die Schweiz?

Frau mit Müdigkeitserscheinungen (Symbolbild)
Extreme Müdigkeit ist nur eines der Symptome von Long Covid (Symbolbild). Credit: Maridav / Alamy Stock Photo

Immer mehr zeigt sich, dass zahlreiche Menschen nach einer Corona-Infektion mit länger anhaltenden Symptomen zu kämpfen haben. Wird Long Covid zu einer Bedrohung des Gesundheitssystems? Die Forschung ist aktiviert. Aber sie kämpft noch mit Problemen.

Erschöpfungszustände, mangelnde Belastbarkeit im Alltag, Kurzatmigkeit, Geruch- und Geschmackstörungen. Viele, welche eine Covid-19-Infektion längst überstanden haben, beklagen weiterhin Probleme. Einige Symptome sind schwer zu greifen: “Brain Fog”, also ein vernebeltes Bewusstsein, aber auch Depressionen können auftreten. Bei anderen sind es Gelenk- oder Muskelschmerzen.

Der Strauss an Leiden macht klar: Betroffen scheint der ganze Körper. Doch die Forschung steckt erst am Anfang, und die Ansätze sind sehr unterschiedlich. Welches Ausmass hat die Krankheit? Was sind mögliche Therapien? Gibt es Risikogruppen?

Als Long Covid gelten in der Fachwelt Langzeit-Effekte einer Sars-CoV-2-Erkrankung, wenn Betroffene mindestens drei Wochen nach einer Infektion oder Spitalentlassung noch an mindestens einem Symptom leiden, das sie vor der Infektion nicht hatten: etwa Erschöpfungszustände, Kurzatmigkeit, Kopfschmerzen, Geschmack- und Geruchverlust.

Und was kann da noch alles auf die Gesellschaft zukommen? Auf Arbeitgeber, Institutionen und Versicherungen? Fest steht, die Zeit eilt. Denn das Leiden ist komplex, so brutal wie teuer – und völlig neu.

Unterschiedliche Resultate

Mehrere grössere Studien zu Long Covid wurden in der Schweiz bisher durchgeführt. Die Universitäten Genf, Lausanne und Zürich publizierten in namhaften Fachzeitschriften. Die Hauptergebnisse der Studien zeigten relativ grosse Unterschiede bezüglich Häufigkeit der Fälle von Covid-Patientinnen und Patienten, die nach über einem halben Jahr noch an Long Covid leiden.

So kamen zwei Studien der Universität Zürich zum Schluss, dass rund 20 bis 25% der Erwachsenen (veröffentlicht in “PLOS One”Externer Link), die an Covid-19 erkrankt waren, und rund 2% der Kinder (veröffentlicht in “Journal of the American Medical Association”Externer Link) an Long Covid leiden.

Die Studie der Universität Genf (veröffentlicht in “Annals of Internal Medicine”Externer Link) kam auf 39% der Befragten. Die Studien werden fortgeführt, weshalb die Resultate mit Vorsicht zu betrachten sind.

Die Long-Covid-Forschung der Universität Zürich findet im Rahmen der wissenschaftlichen Programms “Corona Immunitas”Externer Link statt. In insgesamt 40 Einzelstudien aus der ganzen Schweiz werden die Auswirkungen des neuen Coronavirus Sars-CoV-2 untersucht.

Daran beteiligt sind 14 Hochschulen und Gesundheitsorganisationen aus allen Landesteilen. Koordiniert wird das Programm von der Swiss School of Public Health, deren Präsident Milo Puhan ist.

Milo Puhan, Studienleiter der Zürcher Kohorten-StudieExterner Link, erklärt die unterschiedlichen Ergebnisse damit, dass die Daten für die Studien zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfasst worden seien. Aber: “Sie zeigen in die ähnliche Richtung”, sagt er gegenüber swissinfo.ch.

Für das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat Puhan kürzlich 70 Studien aus der ganzen Welt zusammengefasst. Es sei nicht ganz einfach gewesen, sagt er, “weil die Definition von Long Covid noch nicht einheitlich ist und zu unterschiedlichen Zeitpunkten gemessen wurde”.

Betreffend der Häufigkeit von Long Covid lägen aber die Schweizer Studien im Durchschnitt, schätzt er. Noch immer ganz schwierig einzuschätzen sei: “Was sind die medizinischen Auswirkungen? Was ist die Auswirkung auf den Alltag und auf die Arbeit?”

Gesundheitswesen gefordert

Eine Schlussfolgerung lasse sich aber bereits jetzt ziehen: Das Gesundheitssystem werde durch Long Covid stärker belastet. “Man muss sich vorbereiten in Bezug auf die Versorgung, vielleicht auch die Sozialdienste. Das bedeutet: Man muss die Situation im Auge behalten und entsprechende Angebote bereithalten, von niederschwelligen Angeboten bis zu spezialisierten Sprechstunden”, so Puhan.

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Eine solche Long-Covid-SprechstundeExterner Link bieten die Genfer Universitätsspitäler (HUG) bereits seit Sommer 2020 an. Derzeit werden rund 350 Patientinnen und Patienten betreut. Dort arbeitet auch Mayssam Nehme, Erstautorin der Genfer Studie, einer der ersten und grössten Studien zu Long Covid in der Schweiz, aber auch anderswo, wie sie betont.

“Wir haben im März 2020 angefangen, Patientinnen und Patienten zu verfolgen, die Covid-19 ambulant behandeln liessen, weil wir nicht verstanden haben, was da passiert”, sagt sie gegenüber swissinfo.ch. Dann hätten sie bemerkt, dass einige Menschen länger an Covid-19-Symptomen leiden würden: Müdigkeit, Kurzatmigkeit, Kopfschmerzen, Geschmack- und Geruchverlust.

“Wir beschlossen also, eine prospektive Studie durchzuführen, das bedeutet, dieselben Personen, die wir im März 2020 verfolgten, über Monate und auch Jahre weiter zu verfolgen, um zu sehen, wie sich ihre Symptome mit der Zeit entwickeln würden.”

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Noch sei nicht sicher, ob einige der Einschränkungen, die in allen Studien auftauchen würden, neu für Long Covid oder auf andere Infektionen oder andere Gründe zurückzuführen seien. Um deutlichere Aussagen machen zu können, habe man für die Genfer Studie nun eine Kontrollgruppe hinzugefügt.

Wo steht die Schweiz?

Im Vergleich mit anderen Ländern stehe die Schweiz in der Forschung zu Long Covid gut da, meint Nehme. “Die Schweiz war eines der ersten Länder, die damit angefangen haben, zusammen mit Grossbritannien und den USA. Wir haben es also schon sehr früh ernst genommen.” Eine Einschränkung, mit der Forschende in der Schweiz zu kämpfen hätten, sei die kleine Stichprobengrösse, gibt sie zu bedenken.

Eine weitere Einschränkung in der Schweiz, erwähnt Puhan, sei die Schwierigkeit, Datenbanken miteinander zu verlinken. Dies würde es der Forschung ermöglichen, wer länger an Long Covid leide und etwa wiederholt nach einer Infektion im Verlauf ärztliche Hilfe brauche. “Das ist in Dänemark, Norwegen oder England möglich, weil diese Länder entsprechende Systeme haben.”

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Bisher keine Forschungsgelder für Long Covid

Besonders aber bedauert Puhan, dass es in der Schweiz “bisher keine Finanzierungsquellen gibt: Im Gegensatz zu Deutschland oder Norwegen, England, USA, gab es in der Schweiz keine Ausschreibung für Forschung über Long Covid”.

In den USA etwa haben die Nationalen Gesundheitsinstitute (NIH) mehr als eine Milliarde Dollar in die Forschung für Long Covid gestecktExterner Link. Nehme hofft deshalb, “dass die nächsten Ausschreibungen für den Schweizer Nationalfonds Long Covid einschliessen würden”.

Der Schweizerische Nationalfonds (SNF) hat bereits zwei spezifische Ausschreibungen zum Thema Corona-Pandemie gemacht (Sonderausschreibung CoronavirenExterner Link, NFP 78 “Covid-19”Externer Link) und eine geplant (NFP 80 “Covid-19 in der Gesellschaft”Externer Link). Darin seien drei Long-Covid-Projekte enthalten, heisst es auf Anfrage. Speziell zu Long Covid sei aber keine Ausschreibung geplant. Interessierte könnten aber in der Projektförderung zweimal jährlich Projekte einreichen.

Kritik von Betroffenen

In der Schweiz mussten Betroffene längere Zeit um Anerkennung und Hilfe kämpfen. Nun sei dies erkannt worden, sagt Nehme. “Es gibt mehr Anerkennung in der wissenschaftlichen Gemeinschaft, das ist offensichtlich. Die wissenschaftliche Taskforce hat öffentlich darüber gesprochen, und sogar auf politischer Ebene hat man damit begonnen.” Auch Puhan hat den Eindruck, dass die Behörden Long Covid heute ernstnehmen würden.

Von Betroffenen war unter anderem die Kritik zu hören, die Wissenschaft konzentriere sich zu stark auf die reinen Zahlen und weniger darauf, was einzelnen Patientinnen und Patienten geholfen habe.

“Wir erhalten momentan verschiedene Anfragen für eine Invalidenversicherung”, sagt Mayssam Nehme, Ärztin bei der Long-Covid-Sprechstunde an den Universitätsspitälern Genf (HUG).

Long Covid wird letztendlich auch die Versicherungen beschäftigen. Bereits sind fast tausend Gesuche bei der Invalidenversicherung (IV) eingereichtExterner Link worden. Mit ersten Entscheiden wird diesen Herbst gerechnet.

Für Epidemiologe Milo Puhan ist die Akzeptanz des Krankheitsbilds ein zentraler Punkt. Wichtig sei jetzt, dass man sich auf gewisse Kriterien für die Diagnose einige.

Laut Angaben der IV gilt als Voraussetzung für einen RentenentscheidExterner Link, mindestens ein Jahr lang arbeitsunfähig geschrieben und in medizinischer Behandlung gewesen zu sein.

Auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat Long Covid anerkannt und bietet auf seiner Website weiterführende InformationenExterner Link.

Für die Interessen von Betroffenen setzen sich in der Schweiz unterdessen mehrere Organisationen ein, darunter etwa der Verein Long Covid SchweizExterner Link und der Verband Covid LangzeitfolgenExterner Link.

Zudem bietet das Altea Long-Covid-NetzwerkExterner Link Betroffenen eine Plattform für den Austausch.

Der SNF scheint die Rufe von Betroffenen erhört zu haben. So sind im diesjährigen Programm “Investigator Initiated Clinical Trials” erstmals Patientinnen und Patienten in der Evaluation von Fördergesuchen vertreten.

Das Programm soll medizinische Fragen beantworten, “die für die Gesellschaft wichtig sind, aber für die Industrie keine Priorität haben”, heisst es auf der WebsiteExterner Link.

“Ich bin ein starker Verfechter davon, dass man Betroffene in die Forschung einbeziehen sollte”, antwortet Puhan darauf. In einem anderen Projekt habe man in Zürich ein so genanntes Long Covid Science Board geschaffen. “Mit rund 30 Betroffenen versuchen wir, eine Forschungsagenda zu erstellen, die wirklich die Perspektive der Betroffenen widerspiegelt.”

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Nehme erklärt, die Forschung habe zuerst einmal die Krankheit verstehen und den Prozentsatz oder die Krankheitshäufigkeit bestimmen müssen. Dann folge die Suche nach den Risikofaktoren.

“Aber es ist klar, dass wir verstehen müssen, was helfen kann”, sagt sie und erwähnt dabei auch schon erste Ergebnisse ihrer Sprechstunde: “Wir wissen, dass ein multidisziplinärer, strukturierter Ansatz unseren Patientinnen und Patienten sehr geholfen hat, weil dabei alle ihre Symptome erkannt und behandelt werden.”

Chance für Hotellerie?

Natürlich sollte die erste Anlaufstelle immer die Hausärztin, der Hausarzt sein, sagt Nehme. Aber: “Ein Zentrum für Long Covid kann diesen strukturierten, multidisziplinären Ansatz bieten, denn Sie haben Ihren Arzt, Sie haben Ihre Tests, und Sie haben auch Ihre Physiotherapie.”

Einige Hotels in der Schweiz und anderswo haben deshalb bereits umgesatteltExterner Link und bieten nun die Betreuung von Menschen mit Long Covid an. Wichtig sei, dass sie an solchen Orten auch mit anderen Patientinnen und Patienten sprechen und ihre Erfahrungen teilen könnten, “auch mit solchen, denen es besser ging. Und das wird ihnen etwas Hoffnung geben”.

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