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Marco Solari will Tessin ins rechte Licht rücken

Hinter den Kamelien und Magnolien stehen eine wichtige Verkehrsachse und viele offene Fragen um die Zukunft. Keystone

"Die Grenze zwischen Nord- und Südeuropa verläuft nicht auf den Bergspitzen der Alpen, sondern leicht südlicher, in den Tälern der Südschweiz", sagt Marco Solari, und positioniert damit die Region Tessin ins Zentrum der beiden grossen Pole Europas.

Ob ums Film-Festival in Locarno, um die SBB-Lokomotiven in Bellinzona oder um die Touristen in Lugano: Marco Solari, unter anderem Präsident von Ticino Turismo, kümmert sich um viele Bereiche seiner Region. Sein Ziel aber ist immer dasselbe: Die Bedeutung der Südschweiz ins richtige Licht zu rücken..

Anfang Woche traf sich in Lugano die Schweizer Tourismusbranche, um am jährlichen “Ferientag” die neuesten Trends, Zahlen und Aussichten dieses Wirtschaftssektors zu diskutieren..

Solari gehörte als Präsident des kantonalen Tourismusverbands zu den Gastgebern dieser für das Tessin wichtigen Branche. An dem Anlass spannte der interdisziplinäre Meinungsmacher einen Bogen vom Transit-Standort Tessin über das Filmfestival bis zum Streik der Arbeiter von SBB Cargo in Bellinzona.

Er präsidiert das Filmfestival Locarno seit 2001. Beim Streik in Bellinzona war er als Vermittler im Dienst des Bundes zwischen den Sozialpartnern und den Behörden dabei.

“Drei Versionen des Tessins”

“Eigentlich gibt es drei Versionen des Tessins”, sagt Solari gegenüber swissinfo, “Das piemontesische West-Tessin von Locarno mit seinem kulturellen Anspruch, das der Lombardei und damit der Industrie Mailands zugewandte südliche Tessin der Region Lugano und das nördliche Tessin der Alpentäler.”

Diese Alpentäler seien zwar gegenüber den anderen beiden Regionen benachteiligt, hätten aber in ihrer Rolle als Nord-Süd-Verkehrsachse Europas eine wichtige wirtschaftliche Funktion.

Auch Bellinzona gehört noch zu dieser Täler-Region: Und in diesen regionalen Alptransit-Kontext seien auch die Auseinandersetzungen um die Zukunft der SBB-Cargo-Reparaturwerkstätten einzureihen.

“Liberi e svizzeri”

Solari verweist auf die landesweit ausgleichende Funktion der italienischen Schweiz – und auf den politischen Wert, der sich daraus ergibt: “Gäbe es die Südschweiz nicht, würde die Schweiz nur aus zwei Ethnien bestehen, einer deutsch- und einer französischsprachigen. Das führte zu einer Polarisierung des Landes – wie in Belgien.”

Die Südschweiz sei deshalb regional viel wert. Wie schweizerisch die Mentalität im Tessin und Südbündens sei, zeige die historische Entwicklung, die ganz anders verlief als jene von Norditalien.

Sogar als sie von Napoleon befragt wurden, hätten sich die Tessiner für die Schweiz entschieden – und “liberi e svizzeri” bleiben wollen. In den letzten 150 Jahren hätte sich das Tessin denn auch stark an den Norden der Schweiz angelehnt.

Mailändisch-luganesische Symbiose

Jetzt wende sich das Blatt wieder etwas: “Die Lombardei gewinnt wieder an Einfluss. Mailand und Lugano funktionieren schon fast symbiotisch, denn Lugano offeriert den Italienern das, was sie sich wünschen”, sagt Solari: Ein calvinistisch-hochqualifiziertes Dienstleistungszentrum mit viel Pünktlichkeit und Arbeitsethos.

Wenn einmal klar sein werde, wo zwischen Mailand und Lugano die NEAT durchführe, entstehe wohl ein einziger Grossraum.

Nicht nur Ziffern und Kennzahlen

Doch das gelte vor allem für Lugano. Für die Brückenfunktion gegenüber der Deutschschweiz und Europa, die das Tessin einnehmen soll, brauche es alle drei Regionen der Südschweiz. “Das Tessin kann diese Rolle nur spielen, wenn es wirtschaftlich stark ist und kulturell nicht gedemütigt wird”, so Solari.

Diese Erkenntnis sei auch eine Art Bilanz nach dem einmonatigen Streik der SBB-Cargo-Arbeiter in Bellinzona: “Die Schweiz muss doch einsehen, dass sich im Fall von Bellinzona nicht nur mit Ziffern und Kennzahlen argumentieren lässt – dass es um andere Werte geht.”

Gretchenfrage betriebswirtschaftlicher Führung

Man könne nicht von der SBB-Spitze regionalpolitische Rücksichten verlangen, wenn man ihr eine Führung nach betriebswirtschaftlichen Kriterien vorgebe. Die Politik sei deshalb, so Solari, grundsätzlich gefordert.

Lösungen im wirtschaftlichen Bereich des Unterhalts von Güter-Lokomotiven und Güterwaggons seien das eine, die Prioritäten der Regionalpolitik das andere, so denkt man heute vielfach im Tessin. Deshalb sitzen am Runden Tisch in Bern nicht nur die SBB und die Gewerkschaften, sondern auch der Kanton Tessin und das Departement für Volkswirtschaft (Staatssekretariat für Wirtschaft, Seco).

Zahlreiche Tessiner haben eine kantonale Volksinitiative unterschrieben, in der eine Art von Eisenbahn-Technologiepark in Bellinzona gewünscht wird, der von der öffentlichen Hand zumindest mitgetragen ist.

Der Standort Tessin könne nicht nur die touristische Destination und den Finanzplatz Lugano umfassen, sondern brauche auch einen (Eisenbahn-)Werkplatz.

swissinfo, Alexander Künzle, Lugano

Marco Solari stammt aus Barbengo am Luganersee.

Das Gymnasium schloss der Dreisprachige in Bern ab, die Universität 1969 in Genf (sciences sociales).

Während zwanzig Jahren war er Verkehrsdirektor des Kanton Tessins.

1988 wurde er Delegierter des Bundesrates für die Vorbereitungen und die Durchführung der 700-Jahrfeier der Eidgenossenschaft.

1992 Mitglied der Verwaltungsdelegation des Migrosgenossenschaftsbundes.

1997 Stellvertretender Konzernchef der Ringier AG.

Seit 2001 operativer Präsident des internationalen Filmfestivals Locarno.

Er amtet auch als Präsident des Tessiner Verkehrsverbands.

Die Neue Regionalpolitik NRP ist auf Anfang 2008 eingeführt worden.

2007 hat das eidgenössische Parlament für 2008 bis 2015 Schwerpunkte und Finanzierung des regionalpolitischen Mitteleinsatzes verabschiedet.

Die Hauptverantwortung für die Umsetzung liegt bei den Kantonen.

Der Bund beteiligt sich subsidiär.

Die erste Priorität gilt der Schaffung von Rahmenbedingungen für die regionale Exportwirtschaft, worunter auch der Tourismus fällt.

In zweiter Priorität sind Produktions- und Servicestrukturen von Interesse, die sich auf ländliche Räume abstützen.

Die touristische “Sonnenstube” Tessin ist zahlenmässig viel weniger bedeutend als ihre Bekanntheit vermuten lässt.

Als eigene Schweizer Tourismus-Region hat sie sich im Rekordjahr 2007 verglichen zum nationalen Wachstum von 4,4% Logiernächtezunahme mit 1,8% schlechter entwickelt.

Im Vorjahr lag das Tessin mit +6,6% über dem Landesdurchschnitt von +5,8%.

Im Grössenvergleich setzen die Tessiner Hotels- und Kurbetriebe mit 2,7 Mio. Logiernächte etwas mehr um als das waadtländische Genferseegebiet (2,5 Mio.), aber etwas weniger als die Stadt Genf (2,9 Mio.).

Die Region Zürich setzt 4,6 Mio. LN um, Graubünden 5,8 Mio.

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