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Marthaler: “Ich will weiter machen”

Nach der Entlassung Christoph Marthalers hat die Direktion des Zürcher Schauspielhauses am Dienstag vor den Medien angriffig Stellung bezogen.

Eine Protestversammlung im Theaterhaus Gessnerallee forderte am Dienstag die Annullierung der Kündigung.

Zwischen Verwaltungsrat und Direktion des Schauspielhauses ist die Auseinandersetzung in vollem Gange. Glaubt man dem Verwaltungsrat, dann hat Marthaler mit seiner Crew wohl tolles Theater gemacht, ist aber wegen seiner Sturheit und Unflexibilität in finanziellen Dingen selbst für die Entlassung verantwortlich.

“Verarschung der Stimmbürger”

Christoph Marthaler und seine Co-Intendantin Stephanie Carp fuhren am Dienstag ihrerseits mit starkem rhetorischem Geschütz auf. Marthaler sprach von einem “verfehlten Zeitpunkt” und einer “Verarschung der Stimmbürger”.

Denn obwohl diese dem Schauspielhaus im Juni mehrheitlich das Vertrauen ausgesprochen hätten, seien er und sein Team über Nacht rausgeworden worden. “Man hat uns die Entlassung aus der Zeitung erfahren lassen. Das ist ungeheuerlich.”

Bezüglich Finanzen forderte Marthaler eine Untersuchung, um “endlich herauszufinden, wer denn eigentlich in den letzten zwei Jahren Geld verschleudert hat.” Carp stellte in den Raum, dass die Finanzen nur ein Vorwand seien für die Entlassung.

Marthaler will bleiben

Carp wies auf “die wirtschaftliche Verflechtung des Verwaltungsrats” hin, auf “den Wirtschaftsklüngel”, dem das politische Theater am Schauspielhaus zu weit gegangen sei. So sei sie als verantwortliche Dramaturgin vom Verwaltungsrat zum Beispiel angehalten worden, die Hamlet-Inszenierung von Christoph Schlingensief zu zensurieren und Teile davon zu verbieten.

Er habe das Vertrauen in den Verwaltungsrat vollständig verloren, schloss Marthaler. Das direkte Gespräch sei zurzeit abgebrochen. Man verkehre nur noch schriftlich. Trotzdem unterstrich der Intendant: “Wir sind gewillt, hier weiterzumachen.”

Muschg und de Weck

Nach der Bekanntgabe der Entlassung hatte sich um den Schriftsteller Adolf Muschg und den Publizisten Roger de Weck Widerstand formiert. Im Theaterhaus Gessnerallee führten Muschg und de Weck am Dienstagabend eine von über 1000 Leuten besuchte Protestversammlung durch.

Der Verwaltungsrat desavouiere mit seinem Entscheid das Zürcher Stimmvolk. Er müsse die Entlassung Marthalers zurücknehmen, forderte die Versammlung in einer Resolution.

Christoph Marthaler müsse die nötige Zeit erhalten, “das Unmögliche möglich zu machen”, forderte Muschg. Er bezeichnete es als Frechheit, dass der Intendant die nächste Spielzeit gewissermassen unter dem Fallbeil inszenieren müsse.

Deutschsprachige Bühnen protestieren

Heftige Kritik formulierte am Dienstag auch die Belegschaft des Schauspielhauses. In einem offenen Brief sprachen 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dem Verwaltungsrat das Misstrauen aus und forderten ihn zum Rücktritt auf.

Auf Unverständnis stiess der Entlassungs-Coup zudem in der ganzen deutschsprachigen Theaterszene. In einem offenen Brief an den Verwaltungsrat und den Stadtpräsidenten Elmar Ledergerber protestierten zahlreiche Regisseure und Intendanten namhafter Bühnen wie Frank Baumbauer, Frank Castorf oder Jossi Wieler.

Die Entlassung sei “ein Schlag in die Magengrube des Theaters” schrieb Luc Bondy. Das Berliner Ensemble bot Marthaler Asyl an.

Nachfolger in Sicht

Zum Eklat war es am Samstag gekommen, als der Verwaltungsrat der Schauspielhaus AG bekannt gegeben hatte, er werde sich nach Ablauf der kommenden Spielzeit vom künstlerische Direktor Christoph Marthaler trennen. Begründet wurde der Entscheid mit dem Rückgang der Zuschauerzahlen und finanziellen Problemen. Es gehe ums Überleben des Schauspielhauses, hiess es.

Laut Medienberichten vom Dienstag stehen bereits mögliche Nachfolger für Marthaler zur Debatte. Gehandelt werden insbesondere die beiden einst erfolgreichen Direktoren des Neumarkt Theaters, Volker Hesse und Stephan Müller.

Beide haben allerdings bereits ihre klare Absage deponiert. Genannt werden zudem Matthias Hartmann, Intendant am Schauspielhaus Bochum, und der Intendant des Berliner Ensembles, Claus Peymann.

swissinfo und Agenturen

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