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Die Garanten der Schweizer Präzision

Mann mit Koffer voller Metallgewichte
Urs Roseng ist einer von fünf Eichmeistern im Kanton Bern. swissinfo.ch

Wer stellt sicher, dass die auf dem Display angegebene Menge wirklich stimmt, wenn wir tanken oder im Laden Gemüse abwägen? Die Suche nach der absoluten Präzision steht im Mittelpunkt der Arbeit der kantonalen Inspektoren und des Schweizerischen Instituts für Metrologie bei Bern.

“Komisch, das ist mir noch nie passiert”, sagt Urs Roseng. Er beobachtet seine Referenzgewichte auf der Waage, entfernt das Grössere, fügt zwei Kleine hinzu, dann ein Drittes. Er schüttelt den Kopf. “Eine unpräzise Waage, das kann vorkommen. Aber vier im gleichen Laden, das ist aussergewöhnlich.”

Wir sind in einer Metzgerei in Hindelbank, einem kleinen Dorf im Berner Mittelland. Urs Roseng ist als einer von fünf Eichmeistern des Kantons unterwegs. Seine Aufgabe: Die Genauigkeit der Messgeräte überprüfen. Die soeben gemessenen Ungenauigkeiten sind überproportional. Er hat 15 kg auf die Waage gelegt, doch das Display zeigt 25 Gramm mehr an. “Das ist nicht tolerierbar”, sagt er. Der zulässige Grenzwert beträgt 7,5 Gramm.

Versteckt sich hinter dem freundlichen Gesicht des Metzgers ein Betrüger? “Das glaube ich nicht”, sagt Roseng. Der Grund für die Ungenauigkeit liegt laut ihm an einem Kalibrierfehler beim Hersteller. “Das kann bei neuen Modellen vorkommen.”

Auf das Problem angesprochen, reagiert der Metzger überrascht. Einige Sekunden später ist er bereits am Telefon mit dem Lieferanten. Innerhalb weniger Tage würden die Waagen neu kalibriert, versichert er.

Mann liest Display einer modernen Waage ab, Frau macht sich daneben Notizen
Mit Referenzgewichten prüfen Urs Roseng und seine Assistentin die Präzision einer Waage. swissinfo.ch
Metallzylinder in verschiedenen Grössen
Von 2 Kilogramm bis 5 Gramm: Referenzgewichte aus einer Chrom-Nickel-Legierung. swissinfo.ch

“Wenn wir Präzision wollen, braucht es Kontrollen”

Roseng ist Eidgenössisch diplomierter Mechanikermeister und arbeitet seit neun Jahren als Eichmeister. Jeden Tag ist er auf den Strassen des Kantons Bern unterwegs, um Waagen zu prüfen (von den kleinen in den Lebensmittel-Geschäften bis zu den grossen in der Industrie), aber auch Zapfsäulen und Abgas-Messgeräte. “Es ist ein Dienst an den Konsumenten, auch wenn korrekte Messungen im Interesse aller sind”, betont er.

Nach der Metzgerei geht es weiter in eine grosse Firma, die Gemüse verpackt. Karotten, Zwiebeln und Kartoffeln werden eingepackt, gewogen und etikettiert, bevor sie in den Verkaufsregalen landen. In diesem Fall ist der Besuch von Urs Roseng angekündigt. “Andernfalls riskiere ich, die Produktion einstellen lassen zu müssen. Der Verantwortliche würde sich darüber nicht freuen.”

Die Waagen von Verpackungsanlagen werden häufiger kontrolliert – einmal im Jahr. Die Mengen, die gewogen werden, gehen in die Tonnen, und eine Abweichung von wenigen Gramm könne bereits einen grossen Unterschied machen, sagt Roseng.

Er hält nicht viel von einer Motion, die im Eidgenössischen Parlament angenommen wurdeExterner Link und verlangt, dass die Eichintervalle vergrössert werden sollen. “Wenn wir Präzision wollen, braucht es Kontrollen”, sagt der Eichmeister.

Mann prüft die Waage einer Gemüse-Verpackungsfirma
Prüfung der Waage einer Gemüse-Verpackungsfirma. swissinfo.ch

Ein Kilo ist nicht immer ein Kilo

Von den 1117 Waagen, die Roseng im letzten Jahr kontrolliert hat, musste er nur 66 bemängeln. Meist handelte es sich um Mängel in den Spezifikationen, technische Defekte oder kleine Ungenauigkeiten. Zum Beispiel durch Schmutz, der sich unter der Waagschale angesammelt hatte, oder durch unsachgemässe Positionierung der Waage auf einer instabilen Oberfläche.

“In den meisten Fällen zeigt die Waage weniger an, als sie sollte. Das geht zu Lasten des Verkäufers. Deshalb freuen sie sich, wenn ich mit meinen Koffern erscheine”, sagt Roseng.

In seinem Bezirk hat er noch nie willentliche Manipulationen festgestellt. “Es braucht profundes Wissen, um eine Waage zu manipulieren. Nur wenige wären dazu in der Lage.”

Es kommt allerdings vor, dass er auf Waagen trifft, die abnormale Werte anzeigen: “Es gibt Bauern, die ihre Produkte direkt ab Hof verkaufen und nicht geeichte Waagen brauchen, die über das Internet bestellt wurden. Sie handeln in gutem Glauben, aber das ist nicht erlaubt.”

Nur in wenigen Fällen sah er sich gezwungen, Verstösse zu melden. Die neue Verordnung über die Mengenangabe im Offenverkauf und auf FertigpackungenExterner Link, seit 2013 in Kraft, verlangt, das Gewicht von Verpackungsmaterialien vom Warengewicht abzuziehen. Doch nicht alle halten sich daran. Einige Bäckereien wägen die Backwaren weiterhin zusammen mit dem Papiersack. Sie wurden angezeigt”, sagt Roseng.

Kofferset mit Referenzgewichten
Ein Set mit Referenzgewichten kann bis zu 20’000 Franken kosten. swissinfo.ch

Mit einem Kniff zu mehr Benzin?

Wir lassen den Geruch von Zwiebeln hinter uns und fahren weiter zu einer Tankstelle. Urs Roseng will deren Zapfsäulen unter die Lupe nehmen. Auch hier kommt es zu einer Überraschung: Die Menge, die auf dem Display angezeigt wird, entspricht nicht jener im Messbehälter.

Während das Display der Zapfsäule 30 Liter angibt, zeigt die Skala auf dem Referenz-Behälter 30,09 Liter Benzin an, fast einen Deziliter mehr. Und nicht nur das: Wenn der Treibstoff schnell ausgegeben wird, durch vollständiges Drücken des Pistolenhebels, ist die Menge grösser als bei langsamerer Befüllung.

Mann und Frau füllen an einer Zapfsäule einen Mess-Behälter
Bei Benzin-Zapfsäulen wird die auf dem Display angegebene Menge mit jener in den Referenz-Behältern verglichen. swissinfo.ch
Messskala für Benzin, Nahaufnahme
30,09 Liter Benzin zum Preis von 30 Litern. swissinfo.ch

Doch die Freude, einen cleveren Kniff gefunden zu haben, um an mehr Benzin zu kommen, ist von kurzer Dauer. Die Geschwindigkeit der Befüllung spiele keine Rolle, sagt Roseng: “Bestimmend ist die Temperatur des Benzins. Die Mengen müssen dann auf eine Referenztemperatur eingestellt werden. Schliesslich sind die Unterschiede zwischen der angegebenen und der tatsächlich gelieferten Menge oft unbedeutend. 0,9 Deziliter auf 30 Liter liegen innerhalb der Toleranzgrenze.”

Nur einmal musste er eine Zapfsäule vorübergehend schliessen lassen. “Es gab ein Problem bei der Regulierung. Aus der Zapfsäule kam mehr als ein halber Liter weniger Benzin.” Doch auch das Gegenteil sei schon der Fall gewesen. Damals aber hat der Eichmeister die Zapfsäule nicht schliessen lassen, sondern lediglich den Betreiber gewarnt.

Jede Schweizer Region hatte ihr eigenes System

Das auf dem Metrischen System basierende System der Masseinheiten und GewichteExterner Link wurde nach der Französischen Revolution von 1789 eingeführt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lag die Kompetenz über Masse und Gewichte bei den Kantonen, was die Vereinheitlichung auf nationaler Ebene erschwerte.

Damals hatte jede Region ihr eigenes System. “Es gab beispielsweise das Berner und das Walliser Pfund. Der gleiche Name, aber ein anderes Gewicht”, sagt David Lehmann vom Metas.

Wegen des regen Handels mit Frankreich übernahmen die West- und die Südschweiz das Metrische System.

Das Mittelland und die Nordostschweiz hingegen entschieden sich für einen Kompromiss auf Grundlage des Meters, der aber auch noch die alten Einheiten umfasste.

Die Alpen- und Ostschweizer Kantone schliesslich hielten an den Gewichten und Massen der vorrevolutionären Periode fest. Im Tessin beispielsweise wurde mit einem System gemessen, das zum Teil auf alten Gewichten und Mailänder Massen basierte.

1875 übernahm die Schweiz mit der Unterzeichnung der Pariser Meterkonvention das metrische Dezimalsystem, das zwei Jahre später eingeführt wurde.

(Quelle: Historisches Lexikon der SchweizExterner Link)

“Der Ort, wo die Schweiz am genausten ist”

Wie die Messgeräte, die er täglich prüft, wird auch der Eichmeister von Zeit zu Zeit… überprüft. Wegen Mikro-Kratzern oder durch den Handschweiss, der das Metall angreift, verlieren seine Referenz-Metallzylinder an Gewicht. Periodisch müssen Roseng und die anderen 55 Eichmeister der Schweiz ihre Gewichte und Behälter deshalb beim Eidgenössischen Institut für MetrologieExterner Link (Metas) prüfen lassen.

“Der Ort, wo die Schweiz am genausten ist”, heisst es auf einer Plakette beim Eingang des Instituts. Hier in Wabern bei Bern befindet sich das Kompetenzzentrum der Eidgenossenschaft für alle Fragen der Messtechnik, der Messgeräte und -verfahren.

Alle Messgeräte, die im Handel, im Verkehr, in der öffentlichen Sicherheit, der Gesundheit und im Umweltschutz im Einsatz sind, würden durch das Metas überwacht, sagt David Lehmann, Kommunikationsverantwortlicher des Instituts.

2017 haben die Eichmeisterinnen und Eichmeister des Metas 134’000 Messgeräte und etwa eine Million Stromzähler kontrolliert. Je nach Kategorie gaben zwischen 7 und 12% der Geräte fehlerhafte Masse an.

Weniger zufrieden mit den Ergebnissen war man bei den Taxis. Bei einer Überprüfung der Messgenauigkeit von Taxametern in der SchweizExterner Link zwischen November 2017 und Februar 2018 kam heraus, dass einer von vier Taxametern eine zu grosse Distanz anzeigte. Das bedeutet, dass viele Taxikunden zu viel bezahlt hatten, auch wenn es sich im Einzelfall nur um wenige Rappen handelte.

Eine Sekunde in 30 Millionen Jahren

International gesehen gehört das Metas in verschiedenen Fachgebieten zu den fortschrittlichsten – und damit präzisesten – Instituten. Darunter bei den Längenmessungen, bei Mikro-Räderwerken, bei Radargeräten und bei niedrig konzentrierten atmosphärischen Gasen, erklärt Lehmann.

In den Gebäuden des Metas befindet sich auch eine der genauesten Cäsium-AtomuhrenExterner Link der Welt. “Sie geht alle 30 Millionen Jahre eine Sekunde nach”, sagt Lehmann. Um die Präzision zu verdeutlichen, mit der das Institut arbeitet und die bei der Atomuhr “15 Stellen nach dem Komma” bedeutet, macht Lehmann ein konkretes Beispiel: “Stellen wir uns einen Papierstapel von zehn Kilometern Höhe vor: Die Fehlerquote liegt hier bei plus/minus einem Blatt Papier.”

Doch ist eine so genaue Präzision in den Augen von Laien wirklich nötig? Der Metas-Sprecher hat keine Zweifel daran: “Für uns Konsumenten ändert ein Gramm mehr oder weniger nichts. Aber für bestimmte Anwendungen ist höchste Präzision erforderlich. Denken wir an die Medizin oder an die Pumpen, die Morphium oder andere Substanzen in den Körper bringen: Mit wenigen Nanolitern [0,000000001 Liter] zu wenig erreicht man keine Wirkung, mit wenigen Nanolitern zu viel im Blut kann man sterben.”

Historische Revolution

Gegenwärtig arbeitet das Metas mit Instituten aus aller WeltExterner Link an der Neudefinition des Internationalen EinheitensystemsExterner Link (siehe Kasten). Verschiedene Masseinheiten wie das Kilogramm würden auf Materialien basieren, die sich im Lauf der Zeit verändern, so Lehmann.

Zwei Metallzylinder unter Glashauben
Beim Metas wird die Schweizer Kopie des Referenz-Kilogramms, das in einem Tresor bei Paris aufbewahrt wird, unter einer Glashaube vor äusseren Einflüssen geschützt. Keystone

Die Idee ist, das Kilogramm nicht mehr über das Urkilogramm in Paris zu definieren, sondern mithilfe von Naturkonstanten. “So können wir das Kilogramm jederzeit und überall mit gleicher Genauigkeit reproduzieren. Im Bereich der Metrologie handelt es sich dabei um eine historische Revolution”, betont Lehmann.

Eine epochale Umstellung, die aber für die Konsumenten überhaupt keine Veränderung bringt. Und für Urs Roseng ebenfalls nicht. Auch in Zukunft wird der Eichmeister des Kantons Bern seine zwei Koffer mit den Referenzgewichten herumschleppen. Jeder wiegt etwa 20 kg. Eine Präzisionsarbeit, aber auch körperlich anstrengend.

Sieben Basis-Masseinheiten

Das Internationale Einheitensystem (SI), auch als Metrisches SystemExterner Link bekannt, ist heute die weltweit verbindliche Basis für das Messen. Das SI beruht auf sieben Basiseinheiten: Sekunde, Meter, Kilogramm, Ampere (elektrischer Strom), Kelvin (Temperatur), Candela (Lichtstärke) und Mol (Stoffmenge).

Das Kilogramm ist die einzige Grundeinheit des SI, die auf einem Material basiert (das Urkilogramm von Paris, ein Prototyp aus Platin und Iridium, wird im Internationalen Museum für Masse und Gewichte in Sèvres, Frankreich, aufbewahrt).

Die anderen Masse werden hingegen auf der Grundlage von natürlichen physikalischen Konstanten definiert. So entspricht beispielsweise ein Meter der Distanz, die Licht im Vakuum während einer 1/299’792’458 Sekunde zurücklegt.

Ab Mai 2019 werden die Referenzmodelle von vier Basis-Massen (Kilogramm, Ampere, Kelvin und Mol) abgeändert. Für das Kilogramm wird nicht mehr der Metallzylinder von Sèvres benutzt, sondern eine physische Konstante (Planck-Konstante).

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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