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Mexikos erstes Referendum: für Demokratie oder Populismus?

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Gesetzter Sieger? Der mexikanische Präsident Andres Manuel López Obrador. AFP

Mexikos Präsident hat erstmals in der Geschichte des Landes ein Referendum eingeleitet. Ziel: Die Korruption zu bekämpfen. Die Frage, die den Abstimmenden vorgelegt wird, ist jedoch vage und würde kein klares Mandat zur Folge haben. Ist das eine Stärkung der Volksrechte oder reiner Populismus?

Am 1. August werden rund 93 Millionen Mexikanerinnen und Mexikaner in die Abstimmungsbüros gerufen – zum zweiten Mal innerhalb von nur zwei Monaten. Am 6. Juni haben die Wahlberechtigten Vertreterinnen und Vertreter für lokale, regionale und nationalen Ämter gewählt.

Die Vorlage geizt nicht an Komplexität. Eine gekürzte Fassung des Textes lautet wie folgt: “Sind Sie damit einverstanden oder nicht, dass die entsprechenden Massnahmen ergriffen werden […], um einen Prozess der Klärung der in den vergangenen Jahren von den politischen Akteuren getroffenen politischen Entscheidungen einzuleiten, der darauf abzielt, die Gerechtigkeit und die Rechte der wahrscheinlichen Opfer zu gewährleisten?”

Auf den ersten Blick behandelt diese erste landesweite Volksabstimmung eine Frage, gegen die niemand etwas einzuwenden haben kann. Doch was ist also das konkrete Ziel der Abstimmung?

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Geht es darum, mögliche Straftaten zu untersuchen, ist die Volksabstimmung überflüssig, denn dies ist bereits nach geltendem Recht möglich. Und wenn das Recht Lücken aufweisen würde, hätte die Regierung Änderungen vorschlagen können, ohne das Volk um eine Entscheidung zu bitten.

Die vage Formulierung der Vorlage – was, wie und wie lange soll genau untersucht werden? – macht es schwierig, ein klares Mandat festzulegen, falls das Referendum angenommen wird und mindestens 40% der Stimmberechtigten daran teilnehmen. Anders als in der Schweiz, aber ähnlich wie in Italien, gibt es in Mexiko ein Quorum für die Stimmbeteiligung, damit eine Abstimmung gültig ist.

Zur Verwirrung trägt auch bei, dass Präsident López Obrador das Referendum initiiert hat, aber wiederholt erklärte, er werde dagegen stimmen, um “Rache zu vermeiden”.

Wozu all diese Bemühungen, wenn sich der Antreiber des Referendums offen dagegen ausspricht und Korruption bereits nach geltendem Recht strafrechtlich verfolgt werden kann? Es gibt eine einfache Erklärung: Mexiko zeigt, wie Volksabstimmungen genutzt werden können, um die Bürgerinnen und Bürger zu mobilisieren und/oder die Unterstützung des Volks für den Machthaber zu erhalten.

Welche Art von Demokratie?

Die Unzufriedenheit mit den bestehenden Demokratien nimmt weltweit zu. Nach neuen Daten des Pew Research CenterExterner Link stand Mexiko 2018 an der Spitze der Liste: 85% der Befragten äusserten sich unzufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie in ihrem Land.

Mexiko steht auch an der Spitze einer Rangliste von Korruptionsindikatoren. Am anderen Ende der Liste steht die Schweiz, wo das Korruptionsniveau in absoluten Zahlen und im Vergleich niedrig ist, obwohl das Land im jüngsten Korruptionswahrnehmungs-Index von Transparency International zurückfällt.

In der Schweiz sind moderne Formen der direkten Demokratie wie Initiativen und Referenden ein fester Bestandteil der politischen Entscheidfindung. Obligatorische Referenden geben den Bürgerinnen und Bürgern ein Mitspracherecht bei Verfassungsreformen sowie bei wichtigen internationalen Abkommen. Fakultative Referenden garantieren das Recht auf ein Veto gegen vom Parlament verabschiedete Gesetze. Initiativen und Referenden wirken in der Schweiz als Gegengewicht und Ablassventil, um Unbehagen in der Bevölkerung zu kanalisieren.

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Volksabstimmungen über inhaltliche Fragen sind jedoch auch ein Instrument, das von populistischen und autokratischen Führerinnen und Führern stark befürwortet wird.

In gewisser Weise ist die Schweiz eines der populistischsten Länder Europas: Die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) ist die grösste Partei mit einer starken anti-elitären und nationalistischen Ausrichtung. Gleichzeitig wird der Volkszorn oft durch Volksabstimmungen kanalisiert, was dazu beiträgt, dass die Schweiz eine der stabilsten, partizipativsten und wohlhabendsten Demokratien der Welt ist.

Was braucht es, damit dies auch in Mexiko gelingt?

Ermächtigung der Machtlosen

Mexiko ist das letzte Land in Lateinamerika, das die Mechanismen der direkten Demokratie auf nationaler Ebene formell geregelt hat. Aber in allen 32 mexikanischen Bundesstaaten gab es bereits zuvor Regeln.

Der “Direct Democracy NavigatorExterner Link” listet nicht weniger als 261 verschiedene direkt-demokratische Instrumente in Mexiko über alle politischen Ebenen hinweg auf. Keines davon wurde jedoch auf nationaler Ebene angewandt, abgesehen von einigen Konsultationen, an denen begrenzte Teile der Wählerschaft beteiligt waren.

Das bekannteste Beispiel war die “Konsultation” zur Aussetzung des Baus eines neuen Flughafens. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Kritikerinnen und Kritiker behaupten, die demokratischen Regeln bestünden nur auf dem Papier.

Ausserdem sind die meisten lateinamerikanischen Systeme als präsidialistisch definiert. Das bedeutet, der Regierung fällt viel Macht zu. Mechanismen der direkten Demokratie in den Händen starker Exekutiven können deren Macht gegenüber der Opposition verstärken und die Polarisation antreiben, anstatt die zur Diskussion stehenden Themen in einer Konsultation zu erörtern.

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In der Schweiz spielt die Regierung (die nicht selber eine Abstimmung initiieren kann) in der Regel eine eher reaktive Rolle. Obwohl die meisten Initiativen und Referenden an der Urne scheitern (2018 lag die Erfolgsquote bei 10,5%), haben sie eine starke indirekte Wirkung, da sie Themen auf die öffentliche Agenda setzen und Kompromisslösungen durch Dialog und Verhandlungen fördern.

Es ist falsch zu behaupten, dass Abstimmungen in erster Linie ein Instrument sind, das von machtlosen Aussenseitern genutzt wird. Nur mächtige Gruppen, die über die notwendigen finanziellen und organisatorischen Ressourcen verfügen, können ein Thema erfolgreich zur nationalen Abstimmung bringen.

Es stimmt jedoch, dass die Direkte Demokratie dabei hilft, Gruppen und politische Akteure einzubeziehen, die sich in vielen anderen Ländern nicht formal an der politischen Entscheidfindung beteiligen können.

Noch ein weiter Weg

Mexiko ist noch lange nicht an diesem Punkt. Bisher war noch kein Vorschlag aus der Bevölkerung für eine Unterschriftensammlung erfolgreich, da dies nicht mit der Verfassung des Landes in Einklang stand.

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Im jüngsten Fall beschloss der Oberste Gerichtshof der Nation, die ursprünglich vom Präsidenten eingereichte Frage anzupassen. In der ersten Fassung waren die Namen der letzten Präsidenten des Landes aufgeführt, was eindeutig verfassungswidrig war. In einem umstrittenen Akt formulierte das Gericht die Frage neu und änderte den Vorschlag.

López Obrador hoffte, mit diesem direktdemokratischen Instrument die Wählerschaft für die Wahlen am 6. Juni mobilisieren zu können. Aber es hat nicht ganz geklappt. Nun behauptet die nationale Wahlkommission, dass ihr die notwendigen Mittel fehlen, um das Referendum am 1. August in Mexiko zu organisieren und durchzuführen.

Das verheisst leider nichts Gutes. Es scheint, dass das Land noch einen weiten Weg vor sich hat, um ein modernes und solides Initiativ- und Referendumsverfahren auf nationaler Ebene zu etablieren und in die Praxis umzusetzen.

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