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Umstrittener Gratis-Rechtsschutz für Asylbewerber

Demonstranten heben Schild mit der Aufschrift We are all human
In Bern wird vor dem Bundeshaus regelmässig gegen die Schweizer Asylpolitik demonstriert. Im Bild protestieren Demonstranten am 8. Dezember 2018 gegen Abschiebungen. © Keystone / Anthony Anex

Am 1. März tritt das neue Asylgesetz in Kraft, mit dem Ziel der Verfahrensbeschleunigung. Alle Antragsteller haben Anspruch auf kostenlose Rechtsvertretung, aber die Wirksamkeit dieser Massnahme wird von mehreren Organisationen in Frage gestellt.

Das Schweizer Asylwesen stellt ab dem 1. März auf Turbo. Die Beschleunigung der Asylverfahren, die 2016 von den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern akzeptiertExterner Link wurde, tritt dann vollständig in Kraft. Dank der Konzentration der verschiedenen Akteure in den gleichen Zentren sollten die meisten Anträge in weniger als 140 TagenExterner Link behandelt werden können.

Damit die Rechte der Antragsteller auch bei diesem schnellen Tempo der Verfahren gewährleistet sind, wird ein kostenloser Rechtsschutz eingeführt. Jeder Asylbewerber kann von Beginn seines Verfahrens an von einem Rechtsanwalt beraten und vertreten werden. Diese Neuerung spaltet Fachleute und Verbände, die Migranten vertreten.

Die Schweizerische FlüchtlingshilfeExterner Link, Dachverband mehrerer Flüchtlingsorganisationen, darunter Caritas, HEKS und Amnesty, begrüsst die Einführung dieses neuen Instruments. Sie ist sogar aktiv an der Umsetzung beteiligt, da einige der Hilfsorganisationen vom Staatssekretariat für Migration (SEM) Mandate für die Beratung und Rechtsvertretung von AsylsuchendenExterner Link in den Bundesasylzentren erhalten haben.

Staatssekretariat für Migration

Schnell und gut unterstützen

CaritasExterner Link hat bereits letztes Jahr in der französischsprachigen Westschweiz ein Pilotprojekt zum Rechtsschutz durchgeführt. Die Organisation zieht eine positive Bilanz aus dieser ersten Erfahrung: “Wir haben den Eindruck, dass Asylbewerber eine Unterscheidung machen zwischen Vertretern von Caritas und Angestellten des SEM. Der Vorteil ist, dass wir von Beginn des Verfahrens an in engem Kontakt stehen. Das bedeutet, dass die Antragsteller dieses schneller verstehen und auch schneller verteidigt werden”, sagt Fabrice Boulé, Caritas-Sprecher für die Westschweiz.

Er argumentiert, dass die Unabhängigkeit der Anwälte gewährleistet ist: “Wir sind Partner des SEM in dem Sinne, dass es einen Austausch über die Rahmenbedingungen gibt. Wir haben die Möglichkeit zu diskutieren, um einige Punkte anzupassen.”

Plakate
Diese Plakate warben 2016 für ein Ja zur Revision des Asylgesetzes. © Keystone / Peter Schneider

Caritas fordert aber auch Verbesserungen, insbesondere eine bessere Koordination mit dem SEM, um Fristen an den jeweiligen Fall anpassen und überstürztes Handeln vermeiden zu können. “Und der Zugang zur Gesundheitsversorgung und damit zu Informationen über den Gesundheitszustand der Antragsteller ist nach wie vor unzureichend, was die rechtliche Verteidigung von Personen mit medizinischen Problemen, die für das Asylverfahren relevant sind, erschwert”, sagt Boulé.

Laut Caritas scheint die Arbeit der Anwälte vor Ort Früchte zu tragen. Besonders für die verletzlichsten Antragsteller sei es eine echte Unterstützung: “In mehreren Fällen hatte die Vorbereitung von Anhörungen zu den Gründen für den Asylantrag durch den Rechtsvertreter erhebliche Auswirkungen auf den Fall”, sagt Boulé.

Auf der Grundlage dieser Erfahrungen ist das Hilfswerk der Auffassung, dass das neue Verfahren für die Antragsteller sinnvoll und effektiv angewendet werden kann. Caritas wird daher ihr Mandat als Rechtsvertreterin in den Bundeszentren der Westschweiz, des Tessins und der Zentralschweiz fortsetzenExterner Link.

Mehrere Schwachstellen

Der kostenlose Rechtsschutz überzeugt jedoch nicht alle Akteure auf diesem Gebiet. Die “Demokratischen Juristinnen und Juristen der SchweizExterner Link” prangern Probleme bei der Berufsethik und Unabhängigkeit an. Zudem seien die Fristen oft zu kurz für eine qualitativ hochwertige Verteidigung. Auch das Westschweizer “Centre social protestant (CSPExterner Link)” weist auf diese Schwächen hin und nennt als weiteres Problem, dass viele Verfahren gar nicht unter das Angebot der Gratis-Rechtsvertretung fallen: Familienzusammenführung, Wohnungsprobleme, Revision aufgrund neuer Fakten usw.

Asylreform

Das Schweizer Stimmvolk sagte im Juni 2016 mit 66,8% Ja zur jüngsten Revision des Asylgesetzes. Die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) hatte das Referendum ergriffen, weil sie diese Reform für kontraproduktiv und zu attraktiv für Migranten hielt. Die Rechten begrüssten den Wunsch zu sparen und die Linken die Stärkung des Rechtsschutzes in den Asylzentren. Nur eine Minderheit der Linken prangerte eine inakzeptable Verschärfung des Asylrechts an.

Ziel dieser Revision sind effiziente und rechtsgleiche Verfahren. Die meisten Anträge werden in den Bundeszentren innerhalb von maximal 140 Tagen bearbeitet. Den Kantonen werden nur diejenigen Personen zugewiesen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Asyl erhalten.

Das CSP verfügt zwar über einen Rechtshilfedienst für Asylbewerber, wollte sich aber nicht am Mandat zur Durchführung beschleunigter Asylverfahren beteiligen. “Das hätte uns Probleme mit der Unabhängigkeit verursacht und wäre zudem unvereinbar mit unserer Arbeitsweise”, erklärt Aldo Brina, Informationsbeauftragter beim CSP.

“Es besteht zunächst eine strukturelle Abhängigkeit, nämlich die des Dienstleisters in seiner Verbindung mit dem SEM, das ihn subventioniert, und es stellt sich die Frage der Unabhängigkeit vor Ort, in einem Arbeitsrahmen und in einem vom SEM vorgegebenen Tempo.” Darüber hinaus können Rechtsvertreter die Beschwerdeführung gegen einen Asylentscheid ablehnen, wenn das Verfahren voraussichtlich nicht erfolgreich ist. “Aber auf diese Weise beschränken sie sich immer auf die bestehende Rechtsprechung und bemühen sich nicht um eine Praxisänderung”, bedauert Brina.

Während der TestphaseExterner Link im Pilotzentrum in Zürich wurde die Hälfte der Beschwerden von externen Anwälten eingereicht. Die SonntagszeitungExterner Link berichtete über den Fall eines jungen Kurden, dessen Gratis-Anwalt sich weigerte, den negativen Asylentscheid anzufechten. Der Kurde wandte sich daraufhin an eine externe Vereinigung, und das aktuell noch laufende Verfahren zeigt, dass sein Fall keineswegs hoffnungslos ist.

Die von der Zeitung befragten Experten weisen auf die Festpreise pro Fall hin: Die Anwälte im Pilotzentrum erhielten 1400 Franken pro Asylbewerber, unabhängig von der Komplexität und Dauer des Verfahrens. Diese Limitierung schafft keinen Anreiz, Rekurse zu führen.

“Unsere Anwälte werden nie aus finanziellen Gründen mit einem Verfahren aufhören. Die Rechtsvertretung dauert bis zum Schluss”, wehrt sich Boulé. “Die Beurteilung der Beschwerdeaussichten basiert nicht auf finanziellen Kriterien, sondern gestützt auf Gesetze und Rechtsprechung.”

Rechtsvertretung als politischer Akt

Die Beschleunigung der Asylverfahren geht daher Hand in Hand mit der Schaffung einer neuen Rechtsschutzinstanz, die dem Mandat des SEM unterliegt und zusätzlich zu dem bereits bei Verbänden und Hilfsorganisationen vorhandenen Angebot zur Verfügung steht. “Kurz gesagt, kann man von zwei Rechtsschutzsystemen sprechen: Die Herausforderung des ersten besteht darin, seine Unabhängigkeit in Frage zu stellen, die Herausforderung des zweiten besteht darin, Mittel für die Fortsetzung seiner Arbeit zu finden”, fasst Brina zusammen.

Externer Inhalt

Die aktive Beteiligung einiger Hilfsorganisationen am neuen Asylsystem beunruhigt viele Menschen und Verbände, die sich für die Flüchtlingshilfe einsetzen. Die Freiplatzaktion in ZürichExterner Link hat ein “Manifest zur aktivistischen Rechtsarbeit” veröffentlicht.

Das CSP stimmt dieser Position zu: “Die Verteidigung von Asylbewerbern ist ein politischer Akt, es geht nicht nur darum, Anwälte zur Abarbeitung von Fällen einzustellen. Wir bedauern, dass sich die Position der Hilfsorganisationen verändert. Sie sind weniger kritisch und vernachlässigen den politischen Aspekt”, sagt Brina.

Angesprochen auf diese Anschuldigungen, antwortete Caritas gegenüber swissinfo.ch: “Wir haben uns für das neue Gesetz und das beschleunigte Verfahren ausgesprochen unter der zwingenden Bedingung, dass eine kostenlose und qualitativ hochwertige Rechtsverteidigung ab Beginn des Verfahrens zur Verfügung gestellt wird. Dieses neue Gesetz wurde von den Bürgern und Bürgerinnen deutlich angenommen. In diesem Mandat muss die Caritas die Qualität der Rechtsverteidigung gewährleisten.”

Es ist nun an der Zeit, dieses neue Modell der Rechtsvertretung in den Bundeszentren in die Praxis umzusetzen. Qualität und Wirksamkeit können erst langfristig wirklich beurteilt werden, aber die Umsetzung wird mit Sicherheit streng beobachtet.

(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)

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