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Mission (Im)possible

Andreas Gross. Keystone

Der Schweizer Nationalrat Andreas Gross ist neuer Sonder-Berichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Europarats für Tschetschenien.

Der Konflikt in der Kaukasus-Republik gilt beim Europarat als das schwierigste Dossier. swissinfo hat mit Andreas Gross gesprochen.

Der Schweizer Nationalrat Andreas Gross ist Ende Juni als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zum neuen Sonderberichterstatter über die politische Situation in Tschetschenien gewählt worden. Gross tritt die Nachfolge des zurückgetretenen britischen Russland- und Tschetschenien-Experten Lord Frank Judd an.

Der Europarat ist die einzige internationale Staaten-Organisation, die noch in Tschetschenien präsent ist. Das Verhältnis zwischen der Mehrheit des Europarates und der russischen Delegation ist wegen Tschetschenien seit Jahren angespannt. Die bisherigen Interventionen des Europarates haben Wirkung gezeigt, wenn auch nicht so viel, wie sich viele erhofft hatten.

swissinfo: Herr Gross, worin genau besteht Ihr Mandat?

Andreas Gross: Mein Auftrag besteht darin, herauszufinden, wie das Töten und das Elend in Tschetschenien ein Ende finden könnte.

Russland ist als Mitglied des Europarates verpflichtet, die Menschenrechte einzuhalten und Konflikte rechtstaatlich auszutragen. Diese Verpflichtungen werden heute in Tschetschenien von verschiedenen Seiten nicht befolgt.

Tschetschenien ist wahrscheinlich eines der grössten und traurigsten Probleme auf dem europäischen Kontinent und sicher eine der schwierigsten Aufgaben, die man in Strassburg fassen kann. Ich versuche nun mein Bestes zu tun.

Wie muss man sich das konkret vorstellen?

A.G.: Nächste Woche gehe ich nach Moskau und höre mir die verschiedenen Positionen an, auch die verschiedenen Ideen, wie man den Konflikt politisch lösen könnte.

Ende August reise ich dann das erste Mal seit dreieinhalb Jahren wieder nach Tschetschenien. Ich werde auch dort versuchen, die Ideen der verschiedenen Beteiligten auszuloten.

Weiter werde ich regelmässig Berichte verfassen, um die Parlamentarische Versammlung des Europarats über den Verlauf des Prozesses zu informieren. Das Mandat ist vorläufig auf zwei Jahre befristet. In Tschetschenien hoffe ich, mindestens alle drei Monate vor Ort sein zu können.

Wie ist zurzeit die Lage in Tschetschenien?

A.G.: Im März wurde über eine neue Verfassung abgestimmt, allerdings unter nicht sehr hilfreichen Umständen. Dennoch sterben seither jeden Tag Zivilisten, russische Soldaten und tschetschenische Freischärler.

Die meisten Tschetschenen fühlen sich heute wie in einem Sandwich – das Fleisch zwischen den russischen bewaffneten Streitkräften einerseits und zwischen den militanten Freischärlern andererseits. Letztere sind zum Teil auch in kriminelle Aktivitäten involviert und vertreten häufig nicht die Interessen der Mehrheit der Tschetschenen.

Diesen Menschen, die ohnmächtig verschiedener Gewalt ausgesetzt sind, möchte ich helfen.

Wie kann der Europarat Einfluss nehmen?

A.G.: Es gilt zuzuhören, gemeinsam nachzudenken, zu diskutieren und zu vermitteln. Dazu gehört auch, Öffentlichkeit herzustellen für die Not, die Auswege und die Suche nach Verständigung.

Nachdem die OSZE hinausgeworfen wurde, ist der Europarat die einzige internationale Organisation, deren Präsenz überhaupt noch geduldet ist. Es geht deshalb auch primär darum zu sagen, was man sieht und zu sagen, was man denkt.

Wie beurteilen Sie den Willen, eine politische Lösung herbeizuführen?

A.G.: Meine Konsultationen in Moskau nächste Woche dienen gerade auch der Beantwortung dieser Frage.

Russlands Präsident Putin hat einer Delegation des Europarates und mir schon vor drei Jahren gesagt, er sei sich bewusst, dass es für diesen Konflikt nur politische Lösungen gebe. Es gibt hier also eine Basis.

Die Mehrheit der russischen Regierung sieht sich zudem als Teil von Europa und will ein europäischer Staat sein. Dafür muss man aber einen gewissen Preis bezahlen, indem europäische Standards eingehalten werden.

Auf der anderen Seite gibt es in Russland, wie überall, Hardliner, die sich internationale Scheinwerfer verbitten und die meinen, der Konflikt sei bloss eine interne Angelegenheit.

Ihre Mission beginnt in einer heissen Phase. Moskau hält im Dezember Parlaments- und im März Präsidentschafts-Wahlen ab. Sind die Voraussetzungen dafür gegeben?

A.G.: Nach der Annahme der neuen Verfassung geht es nun um das Funktionieren der Demokratie. Es wird eine meiner Aufgaben sein, dafür zu sorgen, dass die nationalen Wahlen auch in Tschetschenien korrekt ablaufen können. Die Bürgerinnen und Bürger Tschetscheniens müssen an diesen Wahlen richtig teilnehmen können.

Aber solange die Gewalt so manifest ist, solange jeden Tag Menschen umkommen, sind die Voraussetzungen für eine demokratische Meinungs- und Willensbildung, geschweige denn echte Wahlkampagnen, denkbar schlecht.

Haben Sie eine Vorstellung, wie sich der Tschetschenien-Konflikt lösen oder zumindest nachhaltig entschärfen liesse?

A.G.: Ich habe letzte Woche im Europarat einen umfangreichen Bericht vorgelegt, der aufzeigt, wie man im 20. Jahrhundert mit der Gewährung von Autonomie für bestimmte Regionen erfolgreich Konflikte, auch gewaltsame Konflikte, gelöst oder befriedet hat. Dabei wurde auch die Einheit der beteiligten Staaten gewahrt. Ich habe dargelegt, was und wie man von den erfolgreichen Beispielen lernen kann.

Tschetschenien ist natürlich ein Anwendungsfall für eine solche Autonomie. Da die Autonomie in der neuen tschetschenischen Verfassung auch gemäss der russischen Verfassung noch nicht optimal ausgestaltet ist, hoffe ich, dass dieser Bericht die russische Seite ermutigt, entsprechende Massnahmen zu ergreifen.

Dann würden diejenigen Kräfte, die Eigenständigkeit und Selbstbestimmung suchen, merken, dass sie die Unabhängigkeit überschätzen, und echte Autonomie innerhalb eines demokratischen und rechtstaatlichen Staates unterschätzen.

Man muss nicht unabhängig werden, um sich selber bestimmen zu können. Wenn diese Einsicht auf allen Seiten wächst, dann ist es nicht ausgeschlossen, dass wir eine Befriedung erreichen und die Gewalt überwinden können. Denn mit dieser Einsicht lässt sich die Selbstbestimmung Tschetscheniens ebenso respektieren wie die Integrität Russlands.

Mit was für Gefühlen gehen Sie an die neue Aufgabe?

A.G.: Ich kenne die Region, das ungeheure Elend ist mir also vertraut. Natürlich habe ich auch Angst, denn es ist nicht einfach in Tschetschenien und man riskiert auch etwas. Zudem weiss ich, dass mein Vorgänger, der britische Parlamentarier Frank Judd, von der russischen Seite nicht eben unterstützt wurde.

Ich bin einer, der sagt, was er denkt, und das haben nicht alle gern. Es kann deshalb gut sein, dass meine Mission schon bald zu Ende ist, weil gewisse Kräfte mich noch weniger mögen werden als Frank Judd.

Ich habe grossen Respekt vor der Schwierigkeit meiner Aufgabe. Ich bin aber der Überzeugung, dass man in Europa nur Frieden findet, wenn man diesen Frieden mit Russland findet. Keinesfalls darf man Russland ausschliessen.

Man muss Russland die gleiche Achtung entgegenbringen, die man allen Menschen und allen Staaten entgegenbringen muss. Dies zu tun und gleichzeitig der Sehnsucht der Bürgerinnen und Bürger von Tschetschenien nach Frieden und Demokratie zu entsprechen und deren Interessen möglichst gut zu vertreten, zeigt die Schwierigkeit der Aufgabe. Aber es gibt keine Alternative, als es zu versuchen, und ich möchte dies möglichst gut versuchen.

swissinfo-Interview, Hansjörg Bolliger
(Das Interview wurde vergangenen Mittwoch geführt)

Der Politologe Andreas Gross (51) ist seit 1991 Zürcher Nationalrat und vertritt seit 1995 die Schweiz im Europarat.

Seit Januar 2002 ist Gross Vize-Präsident der parlamentarischen Versammlung des Europarates.

Dem Europarat gehören 45 Staaten an. Sein Ziel ist der Schutz von Menschenrechten, Demokratie und Rechtstaatlichkeit.

Die Schweizer Delegation besteht aus 11 Parlamentarierinnen und Parlamentariern.

Der Tschetschenien-Konflikt dauert seit 1994. Die Menschenrechtslage ist verheerend. Es herrscht ein Klima der Gewalt und Straflosigkeit. Täglich werden Menschen getötet, verschleppt, gefoltert oder verschwinden spurlos nach ihrer Festnahme.

Rund 110’000 intern Vertriebene leben im benachbarten Inguschetien unter schwierigen Bedingungen. Seit Ende 2002 werden sie zur Rückkehr gezwungen.

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