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Mit dem Pinsel Geschichten erzählen

Die Schweizer Künstlerin Valérie Favre lässt sich von Berlin inspirieren. swissinfo.ch

Ihre Bilder seien wie Kapitel eines Fortsetzungsromans, sagt die Malerin Valérie Favre. Sieben grossformatige Gemälde der gebürtigen Schweizerin sind aktuell in einer Ausstellung in Favres Wahlheimat Berlin zu sehen.

Valérie Favre wirkt ein wenig verloren, wie sie neben dem mannshohen Ölgemälde steht. Die Malerin ist zierlich und schmal, das Bild – ein Tryptichon von fast zwei Metern Höhe und drei Metern Länge – dagegen ziemlich imposant.

Doch als Favre anfängt, über ihr Werk zu sprechen, verfliegt dieser Eindruck. Die kraftvolle Stimme der 52-Jährigen füllt die an dem frühen Morgen noch leere Galerie in Berlin-Kreuzberg; mit jedem Satz nimmt die Malerin mehr Raum ein.

“Meine Bilder sind wie Kapitel eines Fortsetzungsromans”, sagt Favre mit charmantem französischem Akzent. “Ich möchte Geschichten erzählen, und weil ich nicht gut schreiben kann, benutze ich dafür den Pinsel.”

Was sie genau malt, kann die gebürtige Schweizerin aus Evilard bei Biel aber nicht sagen. “Bevor ich beginne, habe ich ein Szenario im Kopf. Die Figuren entwickeln sich dann peu à peu.”

In der Regel zeichnet Favre nicht vor, sondern beginnt mit Flächen, die sie immer wieder übermalt. Irgendwann ziehe das Medium Malerei die Figuren aus der Leinwand: “et voilà – ist etwas geschaffen”.

Ein Prozess, der schon mal Monate dauern kann. “Ich bin da inzwischen ganz geduldig. Sowieso arbeite ich immer an mehreren Bildern gleichzeitig”, sagt Favre.

Favres Gemälde sind stark verdichtet, in vielen stecken Anspielungen auf die Kunstgeschichte, auf Literatur, Mythologie und Film. Das Hauptwerk der aktuellen Ausstellung in der Berliner Galerie Barbara Thumm heisst “Die Antwort der Zwerge”.

Ein Zirkuszelt ist zu erkennen, eine Frau mit Vogelkopf, Gaukler und Tänzer, ein Tisch, unter dem ein totes Pferd liegt. Die Menschen scheinen alle in Bewegung, ihre Gesichtszüge verschwimmen; blaugrau, weiss und gelb sind die dominierenden Farben dieses Figurenreigens.

Sieben Tryptichons hängen in der Ausstellung, hinzu kommen Zeichnungen und kleinere Ölbilder. “Ich liebe es, grossformatig zu malen. Aber nur als drei einzelne Leinwände kann ich das Bild alleine bewegen”, sagt Favre, die mit 19 die Schweiz verlassen hat und nach Paris gegangen ist.

“Ich brauche das Unfertige und das Unschöne” 

“Ich wollte weg, weil es in der Schweiz damals keine interessante Kunstszene gab – zumindest nicht im französischsprachigen Teil.” Auch wenn das heute anders sei – zurückzukehren war nie ein Thema für Favre, die heute in Berlin lebt.

Zwei bis drei Wochen im Jahr verbringt sie in der Schweiz. “Um die Berge und die Seen zu geniessen.” Auf Dauer wäre ihr das Leben in der Schweiz zu ruhig und zu einschläfernd, meint die quirlige Malerin. “Ich brauche die Brüche um mich, das Unfertige und das Unschöne. Nur dann greife ich zum Pinsel.”

Favres Durchbruch als Malerin erfolgte 1993 mit einer Einzelausstellung in Brüssel. Seit 1998 lebt und arbeitet die Autodidaktin in Berlin, wo sie im Stadtteil Wedding ein geräumiges Atelier besitzt.

“Beamtin auf Lebenszeit”

Paris sei ihr zu teuer geworden, meint sie. Ausserdem habe sie Berlin wie ein Magnet angezogen. “Die Stadt inspiriert mich enorm. Sie erfindet sich neu, alles ist im Aufbruch.” Anregungen für das eigene Schaffen geben ihr auch ihre Schüler:

Seit 2006 ist Favre Professorin an der Universität der Künste in Berlin. “Die junge Generation fordert mich heraus und ist ein grossartiger Input”, schwärmt sie. “Ausserdem bin ich dank der Lehrtätigkeit Beamtin auf Lebenszeit – ein willkommenes finanzielles Polster.”

Was es bedeutet, als Künstlerin mit wenig Geld auszukommen, das weiss die Wahlberlinerin gut. Frauen in der Malerei hätten es bis heute ungleich schwerer als ihre Kollegen, bedauert sie. “Auch wenn Frauen noch so gut sind, werden ihre Bilder auf dem Kunstmarkt weniger ernst genommen und billiger gehandelt”, so die etablierte Malerin, deren Bilder heute Preise im gut vierstelligen Bereich erzielen.

“Die gläserne Decke, an die Frauen stossen, gibt es eben nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Kunst.” Das Thema Gleichberechtigung hat Favre auch in ihrem Werk thematisiert – humorvoll und erotisch aufgeladen.

Sie erfand die “Lapines”, dralle Hasenfrauen mit Rockgitarren oder auf Motorrädern, deren Name nicht nur Häsin bedeutet, sondern auch auf “la Pine” hinweist, französisch für Pinsel oder Penis.

“The art of watching birds”, noch bis zum 21. April 2011

Markgrafenstrasse 68

10969 Berlin

Vom 15. April bis 28. Mai 2011 sind Valérie Favres Bilder auch in der Schweiz zu sehen: Zusammen mit zwei anderen Künstlern zeigt die Galerie Peter Kilchmann in Zürich eine Auswahl aus ihrem Werk.

Frühere Einzelausstellungen von Valérie Favre (Auswahl):

2010

“y’ a un truc qui masque l’horizon”, Galerie Jocelyn Wolff, Paris

2009

“Looking at stories”, Alon Segev Gallery, Tel Aviv

“Visions”, Kunstmuseum Luzern

“Visions”, Carré d’Art – Musée d’Art Contemporain de Nimes

2008

Susanne Vielmetter Los Angeles Projects, Los Angeles/USA

“Operette”, Kunstverein Ulm

“Valerie Favre: Honig in der Sackgasse”, Galerie Barbara Thumm, Berlin

“Coma”, Jocelyn Wolff Gallery, Paris

2006

“Der dritte Bruder Grimm”, Haus am Waldsee, Berlin

2005

“Hello Bambi”, Galerie Nathalie Obadia, Paris

2004

“Schiesserei im Schlafwald”, Westfälischer Kunstverein Münster

“Hakenschlagen”, Galerie Wohnmaschine Berlin

2003

“Forêt”, Musée de Picardie, Amiens

“Valérie Favre”, Centro de Arte de Salamanca

2002

Galerie Nathalie Obadia, Paris

2001

“Fliegen”, Galerie Wohnmaschine, Berlin

“Sophie et Patrick”, Centre culturel de l’Espal, Le Mans

2000

“Intérieurs”, Galerie Nathalie Obadia, Paris

“Catapulte pour Chiens”, Palais des Arts, Toulouse

“Choreographie für 40 Rentner und einen Zwerg”, Festspielhaus Hellerau, Dresden

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