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Genfer Wegbereiter für Bergung von Kulturgütern

Der Container enthält alles, von der Hebevorrichtung bis zu den chemiefreien Decken. swissinfo.ch

Genf gilt als erste Stadt weltweit, die für den Katastrophenfall über einen eigenen mobilen Container zum Schutz von Kulturgütern verfügt. swissinfo.ch hat einen Augenschein genommen.

Auf einem Lagerplatz in einem unauffälligen Genfer Quartier schlummert ein leuchtend roter Container. Aber öffnet man die Seitenflügel – eine Operation von wenigen Sekunden –, wird aus dem 6 Mal 2,5m grossen Container ein mobiles Zentrum zur Bergung oder Reparatur von Kulturgütern.

Wenn Brand, Wasser oder Erdbeben wichtige kulturelle Werke wie Bücher, Manuskripte und Kunstwerke zu beschädigen drohen, spielt die Zeit eine entscheidende Rolle. Der Container namens “La Berce” (franz. für Wiege) ist eine Genfer “All-in-one”-Lösung.

Der Zweck des Containers, der mit Expertengeräten, Ventilatoren, gefilterten Staubsaugern, Hygrometern, Naturschwämmen und Bürsten ausgerüstet ist, ist es, Werkzeuge für eine geordnete Evakuierung aus den Gefahrenzonen anzubieten oder vor Ort einer Zerstörung zu widerstehen. Die Stadt Genf hat den Container kürzlich in Betrieb genommen. Nun wartet er darauf, seinen Wert zu beweisen.

“Wir haben uns sehr bemüht, etwas zu entwickeln, das wir lieber nicht benutzen möchten”, sagt Projekt-Koordinatorin Nelly Cauliez, Leiterin Restaurationen an der Genfer Bibliothek. Sie hat mit politischen Behörden, Kuratoren und Umweltschützern sowie mit Sicherheitsdiensten gearbeitet, um das Projekt zu koordinieren und den Container zu gestalten.

Techniken zum Schutz der Schreibarbeiten bei Wasserschäden

Gefrieren:

Ein nasses Buch kann vor Schäden bewahrt werden, wenn es während 24 bis 48 Stunden tiefgefroren wird. Ein schnelles Einfrieren bei -30 Grad verhindert die Kristallbildung und das Zerfliessen der Tinte. Danach muss die Temperatur bei -18 Grad stabilisiert werden.

Gefriertrocknung:

Gefriertrocknung, die auf dem Sublimationsprinzip basiert, lässt das vom Papier aufgenommene Wasser sukzessiv entweichen.

Natürliche Trocknung:

Bücher, die nur leicht feucht sind, können mit sanften Ventilatoren belüftet werden, um eine Schimmelbildung zu verhindern, ohne die Seiten zu verbiegen.

Die Bereitstellung des Containers als Teil eines grösseren Rettungsplans hat Genf einen Impuls verliehen, den die meisten anderen Städte nicht haben. Die französische Sektion des Internationalen Komitees vom Blauen Schild plant einen ähnlich ausgerüsteten Bücherbus. Noch ist der Plan aber nicht umgesetzt worden.

Ein Weckruf

“Die Herstellung hat viel Zeit gebraucht”, sagt Cauliez. Ausgangspunkt waren Evaluierungen der Genfer Bibliotheksgebäude in den Jahren 2007 und 2011, wo zahlreiche Sicherheits- und klimatische Defizite zum Vorschein kamen, die inzwischen in Ordnung gebracht wurden. Und was noch wichtiger ist, auch ein Evakuierungsplan mit klar definierten Befehlsketten für den Fall unvorhergesehener Katastrophen war nie getestet worden.

Der Brand von 2008, der das ehemalige Chemie-Institut der Universität Genf und mehr als 1000 Bücher zerstörte, setzte die Dinge für einen koordinierten Evakuierungsplan in Bewegung. “Es war ein dramatisches Ereignis, aber ein positiver Weckruf.”

2009 hatte die Stadt Genf den “PBC” übernommen, einen Plan zum Schutz von Kulturgütern, der die vielen Institutionen abdecken sollte, die sich in Genf niedergelassen hatten – vom Keramik- und Glasmuseum Ariana, über das Naturhistorische Museum, Konservatorium und Botanischer Garten, Ethnografisches Museum Genf, Archive, Bibliotheken bis zum Kunst- und historischen Museum, die alle sehr unterschiedliche Inhalte haben.

“Wir mussten unsere Ressourcen bündeln, unsere Praktiken systematisieren und das Personal schulen. Falscher Umgang in Notsituationen kann mehr Schaden an Kulturgütern anrichten als die Katastrophe selber”, sagt Cauliez.

Aber gute Absichten sind nutzlos, solange sie nicht umgesetzt sind. Deshalb wurde Cauliez beauftragt, einen Evakuierungsplan zu erstellen, die Genfer Bibliothek als Testobjekt zu verwenden und mit der Feuerwehr und Zivilschutz-Organisationen zusammenzuarbeiten.

Eine Lebensübung

Nach sechs Monaten intensiver Vorbereitungen wurde im November 2012 ein Test durchgeführt. Bei der Rettungsübung, an der 218 Personen und 40 Fahrzeuge beteiligt waren, wurden zwei zentrale Strassen von Genf abgesperrt.

An der realitätsnahen Übung in der Genfer Bibliothek vom November 2012 waren 218 Personen und 40 Fahrzeuge beteiligt. Bibliothèque de Genève/Matthias Thomann

Nachdem die Leute evakuiert und die Gebäude gesichert waren, rückten Experten an, die für die Evakuierung der Bücher und Manuskripte Prioritäten setzten. Sie stellten Fragen wie “wurden von den Werken Mikrofilme erstellt?” und “was ist der intellektuelle Wert?”. Sofort wurden erste Hilfsmassnahmen für die vom Wasser beschädigten Bücher ergriffen (Vgl. Kasten).

Obwohl die Übung in Bezug auf Koordination und Weisungen erfolgreich verlief, wurde offensichtlich, dass eine schnelle Intervention notwendig ist, um langfristige Schäden zu minimieren.

“Wir stellten fest, dass wir zwar über die notwendige Ausrüstung verfügten, die aber überall verstreut war”, so Cauliez.

Als ehemalige Leiterin der Restaurationsabteilung des französischen Nationalarchivs (und die jüngste Person, die jemals den Titel “Chef de travaux d’art” erhielt) hat Cauliez wesentlich mitbestimmt, welche Instrumente in den Container gehören.

“Das ist ein Entwicklungsprozess”, sagt sie, weil jede Kulturinstitution spezifische Bedürfnisse hat und der PBC für alle eingesetzt werden soll. Ein Beispiel: Die Museen brauchen spezifische Bergungsmassnahmen für ihre Objekte: Gemälde und Skulpturen in Kunstmuseen, wertvolle Keramik im Ariana Museum. Obwohl der Genfer Container bereits Instrumente zum Transport grosser Formate, wie Hebevorrichtungen, Haftsauger und chemikalienfreie Decken enthält, werden die freigebliebenen Regale allmählich mit zusätzlichem Material für spezifische Aufgaben aufgefüllt werden.

Das Geheimnis

Auf die Frage, weshalb Genf erfolgreich war, während andere Koordinationsversuche gescheitert waren, sagt Cauliez: “In der Schweiz gibt es einen kollektiven Geist, der sich auf Kulturgüter erstreckt. Dieser hohe Grad der Zusammenarbeit zwischen den Institutionen wäre anderswo undenkbar.”

Als der Kredit für den Container von CHF 113’000 (darunter CHF  33’000 für die Ausrüstung) dem Stadtrat vorgelegt wurde, wurde die Vorlage sofort angenommen. “Es gab nicht einmal eine Diskussion. So etwas habe ich noch nie gesehen”, sagt Martine Koelliker, stellvertretende Leiterin des Genfer Kulturdepartements und Präsidentin des PBC.

“Ein hoher Grad der Zusammenarbeit zwischen allen Partnern, auch der verschiedenen Regierungsstellen, war der Schlüssel für unser präventives Denken”, sagt sie. “Wir sind mit unserer Kultur stark verbunden. Und weil das auch für die politischen Verantwortlichen gilt, entsteht eine positive Dynamik.” 

(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)

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