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Mohammed Soudani: Wir leben immer im Süden von jemandem

"Waalo Fendo" von Mohammed Soudani: die Geschichte einer afrikanischen Emigration. swissinfo.ch

Mohammed Soudani wurde 1949 in El-Asnam in Algerien geboren. Vor dreissig Jahren wanderte er ins Tessin aus, wo er heute als einer der kreativsten Film- und Fernsehregisseure der Schweiz hoch geschätzt wird. Sein besonderes Interesse gilt der afrikanischen Welt und ihrem Verhältnis zu Europa. 1998 erhielt er für seinen Spielfilm "Waalo Fendo" den Preis für den besten Schweizer Film.

Am 11. Dezember 1971 um zehn Uhr abends fuhr der Zug im Bahnhof von Lugano ein. Die Türen öffneten sich, ein paar Passagiere stiegen aus. Ich knöpfte meine leichte gelbe Jacke über der roten Krawatte zu – die ich zum ersten Mal trug – und trat auf den Bahnsteig. Ein Landsmann, der seit sechs Monaten in Lugano lebte, erwartete mich. Er hiess mich herzlich willkommen, und wir umarmten uns.

Der erste Schock war die Kälte: Ich nahm sie erst richtig wahr, als ich das Zuhause meines Freundes betrat. Es war eine Altwohnung und sehr gut geheizt. Ich begrüsste die Frau meines Freundes, setzte mich an den Tisch, erzählte von meiner Reise und stürzte mich dann mit Heisshunger auf die Suppe und den Käse. In dieser ersten Nacht konnte ich kein Auge zutun.

Ich freute mich zwar, hier zu sein, vermisste aber meine Mutter und meine Familie. Es dauerte einige Zeit, bis ich wirklich begriff, wo ich war. Auf mich wirkte am Anfang alles reich, schön und perfekt. Niemand schien zu arbeiten; die Cafés waren ja den ganzen Tag voller Menschen. Doch ein paar Monate später merkte ich, dass ich mich getäuscht hatte: Die Leute arbeiteten sehr viel, sogar zu viel.

Meine erste Stelle fand ich als Fussballspieler in einem Zweitliga-Club. Dann begann ich in einem Fotolabor zu arbeiten, spielte aber weiter Fussball. Sechs Monate später lernte ich ein Mädchen mit grünen Augen kennen. Ich verliebte mich Hals über Kopf, hätte mir allerdings nie träumen lassen, dass die Angebetete eines Tages meine Frau werden würde.

Das Tessin entdeckte ich gleichzeitig mit seinem Dialekt und seiner italienischen Sprache. Und einige Jahre später entdeckte ich auch, dass ich in einer Region im Süden der Schweiz lebte. Ich war also aus dem Süden in einen anderen Süden ausgewandert. Damals wurde mir klar, dass man immer südlich von etwas oder jemandem lebt.

Nach und nach lernte ich – nicht ganz problemlos – mit einer Bevölkerung wohnen, arbeiten und zusammenleben, deren Wurzeln zu einem guten Teil in die Einwanderung zurückreichten. Mir wurde bewusst, dass viele Leute, die sich als waschechte Tessiner bezeichneten, genau genommen von italienischen Familien abstammten und seit uralten Zeiten harmonisch mit anderen Familien zusammenlebten, die ihrerseits aus anderen Regionen zugewandert waren.

Ein Gemeinschaftsleben gibt es hier praktisch nicht. Jeder kümmert sich um seine Angelegenheiten. Ich begriff, dass die eigene Familie die eigentliche Welt ist. Die Gesellschaft hingegen ist eine Art Club, dem man beitritt. Diese Mitgliedschaft bringt Privilegien mit sich, die sich nach der Höhe der Clubgebühren richten: Jeder bekommt, wofür er bezahlt.

Heute gehöre auch ich mit dazu. Ich bin seit über 27 Jahren verheiratet; meine Frau ist Filmproduzentin und Leiterin einer audiovisuellen Produktionsfirma, die mit jungen Schweizer Realisatoren zusammenarbeitet. Unsere Töchter leben weit weg im Norden: Die ältere ist Biologin in einer amerikanischen Firma mit Sitz in Genf, und die jüngere besucht die juristische Fakultät der Universität Lausanne.

Mohammed Soudani

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