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“In der Schweiz ist Innovation überlebens-notwendig”

Bild einer Frau
© Keystone / Salvatore Di Nolfi

Seit fast 20 Jahren leitet Nicola Thibaudeau MPS Micro Precision Systems, ein Berner Unternehmen mit 450 Angestellten, das sie zu einem Flaggschiff der Schweizer Hochpräzisionsindustrie gemacht hat. Die Managerin über die steigenden Energiepreise und die Herausforderung der Personalsuche.

Nicola Thibaudeau ist eine Industrielle mit Leib und Seele und eine markante Figur in der Schweizer Wirtschaft. Die Kanadierin, die zuvor an der École Polytechnique de Montréal ein Maschinenbaudiplomstudium absolviert hatte, kam 1990 eher zufällig in die Schweiz. Dort arbeitete sie erst für IBM.

Mit nur 29 Jahren übernahm Thibaudeau die Leitung der Cicorel-Fabrik in La Chaux-de-Fonds. Vier Jahre später kaufte sie Mecanex, ein Unternehmen, das sich auf Weltraummechanik spezialisiert hatte.

Nachdem sie ihr Unternehmen an die grosse Ruag weiterverkauft hatte, wurde sie 2003 Geschäftsführerin und Delegierte des Verwaltungsrats von MPS Micro Precision Systems, einem Unternehmen, das auf massgeschneiderte mikrotechnische Lösungen für verschiedene Industriezweige spezialisiert ist, von der Medizintechnik über die Uhrenindustrie bis hin zur Luft- und Raumfahrt.

Nicola Thibaudeau ist eine von wenigen Frauen an der Spitze eines Industrieunternehmens in der Schweiz.

swissinfo.ch: Frau Thibaudeau, wie würden Sie Ihren Führungsstil beschreiben?

Nicola Thibaudeau: Ich glaube, diese Frage sollten Sie besser meinen Teams stellen… Ich denke jedoch, dass ich sehr kollegial bin und wenig Vorgaben mache. Ich sehe meine Rolle darin, Begeisterung und die Vision des Unternehmens zu vermitteln und gleichzeitig als Bindeglied zwischen unserem Vorstand und unseren Mitarbeiter:innen zu fungieren.

Wie erklären Sie sich als Kanadierin, dass ein Grossteil der Unternehmer:innen – in der Schweiz und anderswo – ausländischer Herkunft ist?

Die Welt des Managements – wie auch die Welt des Ingenieurwesens – ist global, das heisst ein nicht-schweizerischer Manager oder eine nicht-schweizerische Managerin kann durchaus ein Schweizer Unternehmen leiten. Dies steht beispielsweise im Gegensatz zur Situation von Anwältinnen und Anwälten, die normalerweise auf ein nationales oder sogar kantonales Recht spezialisiert sind.

Was bedeutet es für Sie, als Frau in der männerdominierten Industrie eine Führungsposition innezuhaben?

Traditionell blieben die Schweizer Frauen zu Hause, um sich um die Kinder zu kümmern, aber das ändert sich schnell. Ich beobachte, dass es in der Führungsebene junger Unternehmen fast genauso viele Frauen wie Männer gibt.

Was sind derzeit Ihre grössten Sorgen als Unternehmerin?

Ich denke vor allem an die drastisch gestiegenen Energiekosten. Dieses Problem ist besonders heimtückisch, da es die Akteure unserer Branche sehr unterschiedlich trifft, insbesondere je nach der Dauer unserer Verträge mit den Stromversorgern. Dies führt zu einer grossen Wettbewerbsverzerrung, während dies bei der Pandemie oder der Frankenaufwertung nicht der Fall war.

Von steigenden Stromkosten in welcher Grössenordnung sprechen Sie?

Mit unserem Vertrag, der noch bis Ende dieses Jahres läuft, zahlen wir sechs Rappen pro Kilowattstunde. Mit unserem neuen Vertrag, der ab nächstem Jahr gültig ist, werden wir hingegen auf 87 Rappen pro Kilowattstunde steigen. Dies wird uns eine jährliche Rechnung in Höhe von viereinhalb Millionen Franken bescheren. Wir haben es natürlich bei der Konkurrenz versucht, aber ohne Erfolg. Kein anderer Anbieter war bereit, uns im nächsten Jahr mit Strom zu versorgen.

Ist es nicht möglich, einen Teil des Anstiegs auf die Produktpreise abzuwälzen?

Das ist nicht immer möglich – oder nur teilweise. Ausserdem verkaufen wir unsere Produkte nicht an Endkunden. Unsere Kunden haben oftmals bereits langfristige Verträge zu festen Preisen mit ihren eigenen Kunden abgeschlossen.

Ihre Auftragsbücher sind wahrscheinlich gut gefüllt, denn auf Ihrer Website sind rund 20 Stellen ausgeschrieben. Haben Sie Schwierigkeiten, Personal zu finden?

Wir sind in der Tat auf Wachstumskurs. In diesem Jahr haben wir bereits 70 Personen eingestellt. Mehr als die Hälfte dieser neuen Mitarbeiter:innen haben unser Unternehmen bereits wieder verlassen. Ich will nicht verheimlichen, dass die Rekrutierung in unserem Bereich eine echte Herausforderung ist, weil wir alle nach denselben spezialisierten Profilen suchen, insbesondere in der Polymechanik, der Drehteilfertigung und der Fräsbearbeitung. 

Im Rahmen der Pandemie haben einige Spezialisierte in unserer Branche anscheinend den Beruf gewechselt oder sich für eine Frühpensionierung entschieden. Dies führt zu einem regelrechten Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. 

Warum suchen Sie nicht nach Fachkräften in der Europäischen Union oder sogar in aussereuropäischen Ländern?

In unserem Sektor sind die technischen Fähigkeiten vor allem in unserer Region zu finden. Trotz einiger Schwierigkeiten haben wir die benötigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer vor Ort gefunden.

Ausserdem ist es zu riskant, Menschen aus dem Ausland zu holen, die nicht unbedingt über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen, ganz zu schweigen von den kulturellen Unterschieden.

MPS bietet eine Vielzahl von Produkten, Anwendungen und Dienstleistungen für Medizin, Orthopädie, Uhrenindustrie, Luft- und Raumfahrt, Photonik an. Was ist der rote Faden?

Die Präzision! Mit anderen Worten: Unsere Kompetenzen umfassen die Entwicklung, den Prototypenbau, die Industrialisierung und die Herstellung innovativer mechanischer Systeme mit sehr hoher Präzision.

Sie betonen oft Ihre Innovationsfähigkeit. Sind wir in der Schweiz innovativer als in den USA oder in China?

Es ist üblich, die Schweiz aufgrund der Anzahl der angemeldeten Patente als eines der innovativsten Länder der Welt zu bezeichnen. Dennoch bin ich misstrauisch gegenüber solchen Ranglisten. Denn in der Schweiz führt das Eidgenössische Institut für Geistiges Eigentum keine Recherchen über den innovativen Charakter einer Erfindung durch, bevor es die Anmeldung eines Patents akzeptiert. Im Gegensatz zu anderen Ländern. Im Extremfall könnte jeder in der Schweiz ein Rad patentieren lassen.

Abgesehen von solchen Rankings ist jedoch klar, dass Innovation in der Schweiz überlebensnotwendig ist, und sei es nur, um unsere teuren Arbeitskräfte zu kompensieren. In den USA oder in China kann man, vor allem wegen der Grösse der nationalen Märkte, auch ohne hohe Innovationskraft erfolgreich sein, aber das ist in der Schweiz nicht der Fall.

Wie beurteilen Sie das Bildungsniveau in der Schweiz?

Die Tatsache, dass wir einen hohen Lebensstandard haben, ermöglicht es dem Staat, beträchtliche Summen in die Bildung zu investieren. Die Eidgenössischen Technischen Hochschulen in Lausanne und Zürich haben sicherlich viel mehr Mittel zur Verfügung als eine vergleichbare Schule anderswo.

Wie schützen Sie Ihre Erfindungen?

Wir haben Patente in einigen wenigen Schlüsselländern angemeldet. Wir verlassen uns jedoch in erster Linie auf das grosse Know-how aller unserer Kolleginnen und Kollegen, und das ist nicht patentierbar.

Halten Sie als industrieller Zulieferer eine starke Marke für einen wichtigen Vorteil?

MPS macht bewusst keine Werbung für die breite Öffentlichkeit, weil uns das keine neuen Kunden bringen würde. Stattdessen ist es für uns wichtig, in Fachzeitschriften präsent zu sein und unsere Marke als Arbeitgeber zu entwickeln: Wenn zum Beispiel jemand, der sich auf das Drehen spezialisiert hat, eine Arbeit sucht, ist es wichtig, dass er oder sie an MPS denkt.

MPS ist auf internationaler Ebene sehr aktiv. Wie vermarkten Sie Ihre Produkte im Ausland?

Unsere in der Schweiz ansässigen Verkaufsteams nehmen regelmässig an Handelsmessen in der ganzen Welt teil. Wir arbeiten auch mit einigen Agenten zusammen. In diesem Jahr haben wir auch unsere erste Niederlassung im Ausland eröffnet, und zwar bei Boston in den USA, in der Nähe des berühmten Massachusetts Institute of Technology (MIT).

Editiert von Samuel Jaberg. Übertragung aus dem Französischen: Benjamin von Wyl

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