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MS auf der Spur

Myelin (blau) isoliert die Neuronen im menschlichen Gehirn. Bei MS wird diese Schicht angegriffen und zerstört (weiss, gepunktet). (Bild: ZNZ) swissinfo.ch

Der Durchbruch in der MS-Forschung rückt näher. Neue Technologien und bessere Medikamente geben den vielen MS-Betroffenen Anlass zu Hoffnung.

Mit einem innovativen Ansatz steuert das neue MS-Forschungszentrum in Zürich auf Erfolgskurs.

An Hypothesen mangelte es bis anhin nicht. Seit Jahrzehnten versuchen Forscher der Multiplen Sklerose (MS) auf die Spur zu kommen. Doch was wirklich geschieht, wenn das Immunsystem das Zentrale Nervensystem (ZNS) angreift, liegt nach wie vor im Dunkeln.

“Dem Immunsystem gelingt es irgendwie ins ZNS einzudringen, wo es zur Zerstörung von Gewebe kommt. Das weiss man relativ genau, und das ist auch leicht herauszufinden”, sagt der Neuroimmunologe Burkhard Becher, Professor am neuen MS-Forschungszentrum in Zürich, gegenüber swissinfo.

Schwieriger hingegen sei es, den Krankheitsvorgang zu untersuchen. “Das Gehirn ist nun einmal absolut lebensnotwendig. Es ist ein Organ, das man nicht so leicht untersuchen kann.”

Unklar ist auch, welches Organ für die MS verantwortlich ist. Handelt es sich um eine Störung des ZNS, des Immunsystems oder gar um eine koordinierte Störung? Normalerweise arbeiten ZNS und Immunsystem autonom. Bei der Multiplen Sklerose stossen aber beide Organe aufeinander, und es finden äusserst komplexe Interaktionen statt.

Die grösste Herausforderung für die Forschung besteht laut Becher darin, die Mechanismen der MS genau zu verstehen. “Was geschieht tatsächlich, wenn das Immunsystem Zugriff auf das ZNS nimmt? Wie geschieht die Gewebezerstörung? Welche Strukturen werden vom Immunsystem erkannt, warum werden diese angegriffen?”

Neue Technologien

Erst sei kurzem verfügen die Forschenden über die notwendige Technologie, um diese Interaktion zu untersuchen. “Heute können wir zum Beispiel die Sequenz der Zellen erkennen, die ins Gehirn eindringen und ihre antigenerkennende Strukturen analysieren.” Auch die Experimente am Tiermodell würden immer besser.

Die wichtigste Entwicklung sieht der Becher aber in der Zusammenarbeit von Grundlagenforschung und klinischer Forschung wie sie im neuen Zürcher MS-Forschungszentrum praktiziert wird. Das effiziente Zusammenbringen beider Forschungsrichtungen und die entsprechende Förderung dieser Kooperation sei das beste Erfolgsrezept.

“Wir werden zwar nicht innerhalb von ein paar Wochen die MS geheilt haben, aber ich kann mir keine bessere Methode vorstellen, um der Krankheit auf die Spur zu kommen und um die Krankheit im Endeffekt gut therapieren zu können.”

Innovativer Ansatz

Das neue MS-Forschungszentrum gibt es seit Anfang Jahr, es ist dem Zentrum für Neurowissenschaften Zürich (ZNZ) angegliedert. Das ZNZ gehört zu den Top-Adressen neurowissenschaftlicher Forschung. Es ist bekannt für Prionen-, Alzheimer- und Epilepsie-Forschung.

Im Zentrum arbeiten eine Grundlagenforschungs-Gruppe unter Professor Becher sowie eine klinische Forschungsgruppe unter der Leitung von Norbert Goebels zusammen. Goebels ist zugleich Arzt und führt eine wöchentliche MS-Sprechstunde. Damit hat das Zentrum ständigen Kontakt zur Praxis.

“Wir sind überzeugt, dass man weiterkommt, wenn man die Synergien nutzt”, erklärt Wolfgang Knecht, Geschäftsleiter des ZNZ, gegenüber swissinfo. Diese Vorgehensweise werde vom ZNZ seit seiner Gründung vor fünf Jahren verfolgt. Dazu gehöre auch ein enger Kontakt zur Industrie.

Das neue MS-Forschungszentrum wird von der Genfer Biotechnologie-Firma Serono finanziert. Mit Rebif führt Serono ein wichtiges MS-Medikament in der Produktpalette.

Von den knapp 10 Mio. Franken, die das Zentrum in den nächsten sechs Jahren erhält, steuert Serono 8,4 Mio. Franken bei. Ein Teil dieser Mittel ist zudem nicht an die MS-Forschung gebunden, sondern wird vom ZNZ für die Finanzierung von Dissertationen verwendet.

Als Gegenleistung muss das MS-Zentrum die Lizenz zur Kommerzialisierung der Forschungsergebnisse zuerst Serono zum Kauf anbieten. Die Patente selbst gehören aber der Universität Zürich.

Diese Form von Sponsoring ist in den USA oder in Grossbritannien weit verbreitet, nicht aber in der Schweiz. Laut Knecht gehört das ZNZ zu den ersten, die ihre Forschung in diesem Umfang von der Industrie sponsern lassen.

Wie die Finanzierung über die sechs Jahre hinaus gesichert werden soll, ist noch offen. “Das Zentrum überlegt sich jetzt schon entsprechende Finanzierungs-Strategien; sei dies über ordentliche Professuren oder via neue Sponsoren.” Letztlich hänge aber vom Erfolg der Forschung und dem Leistungsausweis des Zentrums ab, ob dies gelinge. “In diesem Punkt bin ich jedoch sehr zuversichtlich”, betont Knecht.

Neue Medikamente

Laut Becher werden in den nächsten drei, vier Jahren einige interessante Medikamente auf den Markt kommen. Zwar gebe es schon mehrere Medikamente zur Behandlung der MS. “Doch die Medikamente, die im Moment auf dem Markt sind, sind nicht hundertprozentig wirksam.”

Die neuen Medikamente sind vielversprechend. “Die bisherigen Resultate von Antegren sind phänomenal”, schwärmt Becher. Zum MS-Medikament des amerikanischen Serono-Konkurrenten Biogen laufen zurzeit in mehreren Ländern Studien unter praxisnahen Bedingungen, darunter auch in der Schweiz.

Die neuen Medikamente versuchen beispielsweise das Immunsystem so zu modifizieren, dass es in Zukunft das ZNS nicht mehr als schädlich ansieht und es wieder toleriert. Die Interferone hingegen, die etwa seit zehn Jahren auf dem Markt sind, reduzieren Häufigkeit und Schwere der Schübe.

Professor Jürg Kesselring, Chefarzt der Rehabilitationsklinik Valens, ist den neuen Medikamenten gegenüber noch zurückhaltend. Die ersten Ergebnisse der ersten Studien seien zwar erstaunlich positiv. “Aber bei einer Krankheit, die durchschnittlich dreissig oder vierzig Jahre dauert, ist ein positives Therapie-Ergebnis von einem halben Jahr nicht gerade viel.”

Es sei jetzt eine gute Zeit, um neue Medikamente auf den Markt zu bringen, die MS spezifisch und mit noch weniger Nebenwirkungen behandeln, ist Becher überzeugt. “Doch dies ist nicht das Ende der Forschung. Wir müssen immer noch herausfinden, wie diese Krankheit funktioniert, um im Endeffekt diese Krankheit heilen zu können. Das ist das Ziel, und so weit sind wir noch nicht.”

swissinfo, Hansjörg Bolliger

Multiple Sklerose ist eine Erkrankung des Zentralnervensystems, bei der das Myelin durch fehlgeleitete Abwehrzellen allmählich zerstört wird.

Myelin ist eine weisse, fettähnliche Substanz, welche die Nervenfasern umhüllt und die Neuronen isoliert.

Durch MS entstehen zahlreiche Entmarkungsherde im Gehirn und Rückenmark.

Die Krankheit verläuft häufig in Schüben. Zunächst bleiben nur wenige Nachwirkungen zurück, aber mit der Zeit entwickeln sich bleibende Behinderungen.

Der weltweite MS-Markt wird auf 2,5 Mrd. Dollar geschätzt, bis 2005 soll das Marktvolumen auf 4,0 Mrd. Dollar anwachsen.

Der Verkaufsschlager Rebif ist für Serono zugleich auch Klumpenrisiko: Im 4. Quartal 2002 erwirtschaftete Serono 42% des Umsatzes mit dem MS-Medikament.

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