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Die Nächte am Hof der Wunder

Mitten in Genf werden zwei Zivilschutzzentren in den Wintermonaten für Obdachlose geöffnet. Für einige Nächte finden die vom Wohlstand Vergessenen Unterschlupf, eine Decke und Wärme. Der Fotograf Didier Ruef hat Menschen aus dieser Randgruppe getroffen, die unsere Gesellschaft oft am liebsten nicht sehen möchte.

Genfer, Schweizer oder Ausländer, die Frauen und Männer kommen aus allen Ecken der Welt. Was sie fast alle gemeinsam haben, ist ein Lebensunglück: Gescheiterte Beziehung, beruflicher Misserfolg, psychische Störungen, Suchtprobleme oder Flucht aus dem Elend in der Heimat.

Wenn die Nächte zu kalt werden, offeriert ihnen die Stadt Genf 200 Notschlafstellen in zwei Zivilschutzzentren. Diese Relikte aus dem Kalten Krieg stammen aus der Zeit, als die Schweiz ihre gesamte Bevölkerung im Fall eines nuklearen Angriffs in Bunkern unterbringen wollte. Von Mitte November bis Ende März sind sie seit 2001 nachts für Bedürftige geöffnet. Sie dienen als Schlafstelle, nicht als Unterkunft. Um 19.15 Uhr öffnen sich die Tore, es gibt Suppe, Duschen stehen zur Verfügung, man plaudert und geht schlafen. Morgens nach dem Frühstück müssen alle ausziehen, spätestens um 08.15 Uhr.

Unterkunft und Mahlzeiten werden gratis allen Personen offeriert, die unter prekären Bedingungen leben. Sie sollen in den Zentren aber nicht Wurzeln schlagen: Höchstens 30 Nächte kann jede und jeder dort verbringen. Einer Verlängerung wird nur stattgegeben, wenn ein dringender Notnachweis erbracht werden kann. Die von der Stadtverwaltung in Zusammenarbeit mit karitativen Organisationen betriebenen Notschlafstellen haben im Winter 2013-2014 mehr als 1500 Personen aus 65 Nationen beherbergt. Im Durchschnitt blieben sie 19 Nächte lang. 58% von ihnen kamen direkt von der Strasse, 54% hatten gar kein Einkommen. Für diese leidgeprüften Menschen ist der Unterschlupf ein Hafen des Friedens, ein Rastplatz oder sogar ein Hort zum Überleben.

Der Schutzraum Richemont, der ursprünglich als Spital dienen sollte, befindet sich unter dem Leichtathletik-Stadion am Rand des Parc de la Grange. Hier hat sich der Fotograf mit einer Wirklichkeit auseinandergesetzt, welche die Bewohner über der Oberfläche meistens missachten. Wenn die Nacht hereinbricht und all die Lichter der Stadt zu funkeln beginnen, schliesst der Bunker seine Tore vor einer anderen Welt.

(Bilder: Didier Ruef, Text: Marc-André Miserez, swissinfo.ch)

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SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

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