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Die Schweiz sucht das Ei des Kolumbus

Polnische Gastarbeiter auf einem Spargelfeld in Graubünden. In der Landwirtschaft ist der Anteil ausländischer Arbeitskräfte überdurchschnittlich hoch. Keystone

Wie lässt sich die Initiative "gegen Masseneinwanderung" umsetzen, ohne mit der EU zu brechen und der Wirtschaft zu schaden? Soll die Zuwanderung mit oder ohne Kontingentssystem, mit Höchstzahlen, oder mit einem Saisonnier-Statut gebremst werden? Die bisherigen Vorschläge scheinen mehr Gegner als Befürworter zu haben.

Die Einführung von Kontingenten, wie sie die Initiative “gegen Masseneinwanderung” verlangt, ist mit der Personenfreizügigkeit nicht vereinbar. Weil die EU bisher keine Bereitschaft erkennen lässt, diese zu verhandeln, steckt die Schweiz im Dilemma: Will sie das Volksbegehren mit griffigen Kontingenten im Sinne der Initianten umsetzen und damit die bilateralen Verträge mit der EU gefährden? Oder soll sie keine Kontingente oder möglichst grosse festlegen und damit die Initianten brüskieren, die für diesen Fall bereits mit einer Durchsetzungsinitiative drohen?

Gefragt ist die Lösung eines Problems, das der Quadratur des Kreises gleicht.

Zwischen 2002 und 2012 ist die Zahl der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz um rund 393’000 auf 1,87 Millionen angestiegen. Fast zwei Drittel der Neuankömmlinge kamen aus Deutschland und Portugal. swissinfo.ch

Kontingente wie mit Drittstaaten?

Ein Kontingentssystem, wie es die Initianten verlangen, regelt in der Schweiz seit Jahren die Einwanderung von Personen aus Drittstaaten (ausserhalb des EU/EFTA-Raums). Der Bundesrat (Schweizer Regierung) legt die jährlichen Höchstzahlen fest, in den letzten Jahren auf jeweils 8500 (Vgl. nebenstehenden Artikel).

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“Wer von schlanken Verfahren spricht, liegt falsch”

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Das System orientiere sich am Bedarf der Schweizer Wirtschaft, sagt Martin Reichlin, Mediensprecher des Bundesamts für Migration, “insbesondere an der gegenwärtigen und prognostizierten Arbeitsmarktlage, der Arbeitslosenquote, dem Fachkräftemangel aber auch an gesellschaftspolitische Anliegen.” Der Bundesrat legt die jährlichen Höchstzahlen fest, in den letzten Jahren auf jeweils 8500. Wer für eine Person aus einem Drittstaat eine…

Mehr “Wer von schlanken Verfahren spricht, liegt falsch”

Von der Idee, das Kontingentssystem auch auf Arbeitskräfte aus dem EU/EFTA-Raum auszudehnen, ist der Arbeitgeberverband gar nicht begeistert. “Selbst wenn sich die EU darauf einlassen würde – wofür es bisher keine Anhaltspunkte gibt – wäre es für die Wirtschaft keine pragmatische Lösung”, sagt Daniella Lützelschwab Saija, Geschäftsleitungsmitglied des Schweizerischen Arbeitgeberverbands (SAV). “Wer behauptet, es handle sich um ein schlankes Verfahren, liegt falsch.”

Wenn die Kontingente die Zuwanderung spürbar bremsen sollen, droht ein Verteilkampf. Branchen wie die Landwirtschaft, das Gast- und Baugewerbe, die zwischen 29 und 34 Prozent ihrer Arbeitskräfte aus der EU rekrutieren, haben bereits Widerstand angekündigt, für den Fall, dass sie gegenüber wertschöpfungsintensiveren Branchen benachteiligt werden sollten.

“Einen solchen Verteilkampf gilt es unbedingt zu vermeiden”, sagt die Arbeitgeber-Vertreterin, ohne eine Alternative vorzuschlagen

Denkanstösse zuhauf

Konkretere Vorstellungen hat der Schweizerische Gewerbeverband (SGV). Er schlägt ein Modell vor, mit dem sich steuern liesse, welche ausländischen Arbeitskräfte wie lange in der Schweiz verweilen dürfen. Anstatt nach Branchen und Kantonen sollten die Kontingente nach Bewilligungstypen verteilt werden: Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen für qualifizierte, Kurzaufenthaltsbewilligungen für weniger qualifizierte Personen.

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Die wirtschaftsliberale Denkfabrik Avenir Suisse möchte auf fixe Kontingente vorläufig verzichten. Stattdessen soll eine Obergrenze für das Bevölkerungswachstum festgelegt werden. Bis mindestens 2020 solle die Zuwanderung durch freiwillige Instrumente der Wirtschaft und Massnahmen von Bund und Kantonen gedrosselt werden, womit die Personenfreizügigkeit erhalten bliebe, argumentiert Avenir Suisse. Kontingente würden erst 2021 eingesetzt für den Fall, dass die Zuwanderung nicht auf das gewünschte Mass reduziert würde.

Die Bürgerlich-demokratische Partei (BDP) schlägt ein dreiteiliges Konzept mit partieller Personenfreizügigkeit, Kontingenten und Höchstzahlen vor.

Weil die Schweiz mit 23 Prozent einen höheren Ausländeranteil hat, als alle EU-Länder (abgesehen von Luxemburg) soll sie gemäss BDP nur noch eine Zuwanderung im Rahmen des EU-Durchschnitts zulassen. Bis dieser erreicht sei, gelte jeweils die volle Personenfreizügigkeit.

Eine Kursänderung sieht die Initiative auch für die Grenzgänger vor, die ebenfalls unter den neuen Verfassungsartikel 121a fallen und den Kontingenten sowie dem Inländer-Vorzug unterstellt werden.

Die Grenzkantone haben bereits einen Handlungsspielraum in der Umsetzung des Gesetzestextes verlangt. Besonders Genf befürchtet, dass zu tief angesetzte Kontingente die Wirtschaft des Kantons gefährden könnten. Alle Westschweizer Kantone hatten die Initiative abgelehnt.

Der Kanton Tessin, dessen Bevölkerung die Initiative mit 68,3% angenommen hatte, verlangte, autonom und unter Berücksichtigung der regionalen Besonderheiten entscheiden zu dürfen.

Ganz anderer Meinung ist der Schweizerische Gewerbeverband: In einem Interview mit der NZZ am Sonntag lancierte dessen Direktor Hans-Ulrich Bigler die Idee, die Grenzgänger von der Kontingentierung auszunehmen. Doch die Bundesverfassung verlangt heute etwas anderes.

Rechnung ohne Wirt

Gemeinsam haben die verschiedenen Denkanstösse zumindest ein Ziel: Die bilateralen Beziehungen mit der EU sollen nicht gefährdet werden – was übrigens auch die Regierung bekräftigt hat. Bis Ende Juni will sie einen ersten Vorschlag zur Umsetzung der Initiative mit Eckwerten zum Kontingentssystem vorlegen.

Dass aber ein EU-kompatibler Vorschlag die Zuwanderung so effektiv bremsen kann, wie es die Schweizerische Volkspartei (SVP) verlangt, zeichnet sich bisher nicht ab. Diese hat inzwischen bekräftigt, dass sie eine “konsequente Umsetzung” der Initiative “gegen Masseneinwanderung” verlangt, die sie praktisch im Alleingang und gegen den Widerstand von Wirtschaft, Regierung und fast aller anderen Parteien lanciert hatte.

In der politischen Debatte über die Einwanderungs-Initiative wurde kaum über die Asylbewerber gesprochen. Doch auch für sie sind im neuen Verfassungsartikel Maximalquoten vorgeschrieben.

Verschiedene Speziallisten haben bereits gewarnt, die Schweiz könne die SVP-Initiative nicht umsetzen, ohne das Völkerrecht zu verletzen, namentlich die Genfer Konvention und das Rückweisungsverbot.

“Die Schweiz ist verpflichtet, die internationalen Standards einzuhalten”, sagt Susin Park, Leiterin des UNHCR-Büros für die Schweiz. “Das beinhaltet unter anderem, dass ein Asylbewerber Anrecht auf ein faires Verfahren hat und nicht in ein Land zurückgeschickt werden kann, wo sein Leben möglicherweise gefährdet sein könnte. Kein anderer Staat auf der Welt kennt ein System der Kontingente.”

Die einzige Möglichkeit, das Völkerrecht nicht zu verletzen, wäre die Festlegung von sehr hohen Kontingenten, die nie erreicht würden, so Park. Ein Vorschlag, den die SVP vermutlich als Affront betrachten würde.

Die Partei des Ideologen Blocher – wie auch der Präsident der Freisinnigen, Philipp Müller – verlangen ausserdem eine Beschleunigung des Asylverfahrens und eine Begrenzung des Familiennachzugs für Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene.

Die Debatte über die Abstimmung vom 9. Februar 2014 dürfte deshalb zu einer weiteren Verschärfung des Asylrechts führen.

Rückkehr in die 1970er-Jahre

Konkrete Vorschläge allerdings hat die SVP keine präsentiert. Die Partei scheint gewillt, die Schweiz in das rigide System der Kontingente zurückzuführen, das von 1970 bis 2002 galt. Für Nationalrat Heinz Brand, Migrationsexperte der SVP, handelt es sich um eine “vertraute” Lösung, die “leicht umzusetzen” sei.

Grundsätzlich wurde die Immigration von Arbeitskräften vor Inkrafttreten der Personenfreizügigkeit durch den Staat kontrolliert. Die Quoten wurden zwischen Wirtschaftsbranchen, Kantonen und Sozialpartnern ausgehandelt, in einem Seilziehen je nach den Machtverhältnissen.

Trotz dem Willen zur Kontrolle aber lag die effektive Einwanderung oft über den Maximalkontingenten, denn der Familiennachzug und die Schwarzarbeit waren in den Quoten nicht berücksichtigt.

Auch wenn die Wiedereinführung eines solchen Systems nicht kompatibel mit dem freien Personenverkehr sei, gibt sich Brand zuversichtlich. “Man muss mit der EU umzugehen wissen und die Abkommen neu verhandeln. Das ist einer der zentralen Punkte”, sagt er gegenüber swissinfo.ch. Die Partei sei zwar bereit, die Bilateralen Abkommen aufzugeben, aber überzeugt, dass Brüssel an Nachverhandlungen interessiert sei.

Die Gewerkschaften lehnen die Denkanstösse kategorisch ab. In ihren Augen hat das alte System der Kontingente klar seine Grenzen aufgezeigt. “Die Studien zeigen es deutlich: Die Arbeitsbedingungen waren instabil, es gab grosse Probleme mit Lohndumping und Schwarzarbeit”, sagt Daniel Lampart, Generalsekretär und Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB).

“Heute redet man von einer Rückkehr des Saisonnier-Statuts, als ob man die dramatische Situation dieser Arbeitskräfte vergessen hätte, die oft gezwungen waren, weit weg von ihren Familien zu leben.”

Ohne Rechte, die heute als selbstverständlich gelten, hätten Saisoniers oft im Untergrund leben und ihre Kinder verstecken müssen, von denen sie sich nicht trennen wollten, welche die Schweiz aber nicht aufnehmen wollte.

Wie soll die Zuwanderung eingeschränkt werden? Die Schweizerische Volkspartei SVP möchte beim Familiennachzug ansetzen. Doch die negativen Folgen einer solchen Politik sind hinlänglich bekannt – aus der Zeit vor der Einführung der Personenfreizügigkeit. Bericht in der Sendung “Echo der Zeit” vom 19. März 2014.

Zweiklassen-System

Einer der zentralen Punkte, auf welche die SVP zur Beschränkung der Einwanderung setzt, ist genau jene Einschränkung des Rechts auf Familienzusammenführung, von dem 2013 rund 50’000 Personen profitiert haben, was 32,2% aller Neuzuzüge ausmachte.

Laut Brand und seiner Partei sollen Personen, “die mit einer Kurzaufenthaltsbewilligung (weniger als ein Jahr, erneuerbar; N.d.R.) in die Schweiz kommen, Frau und Kinder nicht nachziehen dürfen. Für den Ausweis L wird der Familiennachzug deshalb verboten. Wer hingegen länger bleibt, erhält dieses Recht zugesprochen, wenn er nachweisen kann, dass er über genügend finanzielle Mittel verfügt”.

Die SVP schlägt deshalb ein System mit zwei Klassen vor, mit einem Blick auf die am besten qualifizierten Arbeitskräfte und auf jene, die “alle Voraussetzungen erfüllen”, um sich zu integrieren.

Brüssel dürfte keine Freude an solchen Klauseln haben. Der Familiennachzug ist einer der Grundpfeiler der Personenfreizügigkeit, bei der die EU nie nachgeben wollte, auch nicht im Spezialfall von Liechtenstein, das bereits über ein System von Kontingenten verfügt.

Die Suche nach dem Ei des Kolumbus bereits aufgegeben hat die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei (SP). Es gebe eine “absolute Inkompatibilität” zwischen der Initiative und den Bilateralen. Und weil sich das Volk vor dem 9. Februar 2014 dessen nicht bewusst gewesen sei, denken die Sozialdemokraten bereits laut über eine “Korrekturabstimmung” nach.

Dringliche Debatte im Parlament

Seit der Abstimmung vom 9. Februar 2014 beschäftigt die Politik die Frage, wie die SVP-Initiative “gegen Masseneinwanderung” umgesetzt werden könnte. Der Nationalrat führte eine dringliche Debatte zum Thema. Bericht in der Tagesschau vom 20. März 2014.

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