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Neues Gedächtnis der Schweiz

Historisches Wissen über die Schweiz in Buchform und im Internet. Die Fachleute sind überzeugt, dass beides nebeneinander Anklang finden wird. swissinfo.ch

Die Arbeiten für das Historische Lexikon der Schweiz laufen auf Hochtouren. Im Herbst erscheint der erste Band - im Internet ist bereits vieles abrufbar.

Artikel zu 36’000 Stichworten, je in Französisch, Italienisch und Deutsch. 12 Bände wird die gedruckte Version des Historischen Lexikons schliesslich umfassen – ein Viertel davon ist der Öffentlichkeit bereits online zugänglich, dieser Anteil nimmt monatlich zu.

Dokumentation nicht nur für Fachleute

Das Historische Lexikon der Schweiz (HLS) setzt auf mit Karten und Photos illustrierte Bücher. Etwas textlastiger, dafür rascher verfügbar, ist die online Version, das so genannte e-HLS.

“Nicht sexy, aber sensationell”, so das Urteil der französischen Zeitschrift “L’Histoire” zum mehrsprachigen Riesenprojekt. Es soll einerseits interessierten Laien als Nachschlagewerk dienen, andererseits Historikerinnen und Historikern einen vollständigen Überblick über den Forschungsstand in den verschiedenen Gebieten geben.

Auslöser des HLS war eine Untersuchung in den 80er Jahren, die einen eklatanten Mangel in der wissenschaftlichen Dokumentation zur Schweizer Geschichte feststellte.

Schwergewicht jüngere Geschichte

Inhaltlich behandelt das HLS die Zeit von den ersten menschlichen Spuren in der Schweiz bis zu den herausragenden Ereignissen des 21. Jahrhunderts. Vom Umfang her soll die Zeit vom Ersten Weltkrieg bis heute ungefähr 20% beanspruchen, während für die mehr als hunderttausend Jahre von der Altsteinzeit bis zum Mittelalter ungefähr 10% reserviert sind.

Gearbeitet wird parallel auf Deutsch, Französisch und Italienisch; es gibt 4 Artikel-Kategorien: Biographien, Familienartikel, Ortsartikel (Gemeinden, Kantone, andere Länder oder auch archäologische Fundorte) und Sachartikel (beispielsweise historische Phänomene, Institutionen oder Ereignisse).

Lücken schliessen

Beim Zusammentragen und Suchen von Expertinnen und Experten als Autoren stiessen die Verantwortlichen immer wieder auf Forschungslücken, wie Chefredaktor Marco Jorio bestätigt: “Sportgeschichte, Technikgeschichte, die Geschichte der Frauen vor dem 19. Jahrhundert oder verschiedene Ortschaften in der Ostschweiz und im Alpenraum… – es gibt eigentlich in allen Regionen und Themen irgendwelche weissen Flecken.”

Davon ist auch das 20. Jahrhundert nicht ausgenommen: “Der Beginn des Jahrhunderts, der Erste Weltkrieg oder auch die Nachkriegszeit sind nicht wirklich gut erforscht”, so Jorio gegenüber swissinfo.

Viel Kopfzerbrechen bereitet den Redaktorinnen und Redaktoren auch die Erfolge der Archäologie. Noch kurz bevor die Druckmaschinen für die Buchausgabe zu laufen begannen, mussten Artikel neu geschrieben werden – dank neuen archäologischen Erkenntnissen.

“Es ist phantastisch, was dort alles geht. Die Archäologie hat sich in den letzten 30, 40 Jahren rasant entwickelt”, kommt Marco Jorio ins Schwärmen.

Qualitätsunterschiede vermeiden,…

Das zurzeit noch gültige Standardwerk, das “Historisch-biographische Lexikon der Schweiz”, stammt aus den Jahren 1921 bis 1934. Und bereits damals strichen die Verantwortlichen im Vorwort die aufwendige Zusammenarbeit Vieler hervor, “wobei freilich die Nachteile der Verschiedenartigkeit der Mitarbeiter und eine gewisse Unausgeglichenheit in der Ausdehnung und in der Qualität der einzelnen Artikel nicht zu vermeiden sind.”

Daran habe sich nichts geändert, sagt Marco Jorio. Es sei das Problem aller Autorenlexika, daran würden auch Fachberater und gut ausgebildete Redaktorinnen und Redaktoren nichts ändern. “Wir hoffen wenigstens, ungenügende Artikel zu eliminieren”, so das Ziel von Jorio.

… doch kulturelle Besonderheiten beibehalten

Das Fehlen von absoluter Kohärenz sei übrigens nicht nur negativ, sondern auch Spiegel der unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätze und kulturell verschiedenen Sichtweisen.

“In den Ortsgeschichten vom Tessin zum Beispiel ist die Kunst- und Kulturgeschichte immer ein wichtiger Bestandteil. Dies fehlt in der Deutschschweiz meistens, hier ist die Wirtschaft- und Sozialgeschichte im Zentrum.”

Unterschiedliche Experten-Meinungen deutlich machen

Es gibt – besonders bei Themen aus dem 20. Jahrhundert – Fragestellungen, die von Fachleuten unterschiedlich beurteilt werden. Ein Beispiel ist die Zahl der von der Schweiz im Zweiten Weltkrieg abgewiesenen Flüchtlingen: Darüber wurde in den letzten Jahren unter Fachleuten und in den Medien heftig debattiert.

Solche Themen sollen nicht einfach ausgeblendet werden, so die Haltung der HLS-Verantwortlichen. “Wir wollen die Konflikte oder unterschiedlichen Beurteilungen aufnehmen und möglichst deutlich machen.”

Auch “historische Fehler”, respektive Korrektur-Artikel, haben ihren Platz. So gibt es zum Beispiel die “Gesslerburg bei Küssnacht” im Lexikon – allerdings mit einem einordnenden Text, dass von dieser Burg aus nie ein Gessler gewütet hatte.

Eva Herrmann

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