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Objekt der Begierde oder der Gleichgültigkeit

2005 hat Rapp dieses "Baslertübeli" auf einem Brief von 1847 (die viertälteste Briefmarke der Welt) für "nur" 32'000 Franken verkauft. Im Jahr zuvor erreichte ein anderes Expemplar den Rekordpreis von 90'000 Franken. Keystone

Das Event gilt als das wichtigste seiner Art: Alle 18 Monate trifft sich die Elite der Philatelie in Wil, Kanton St. Gallen zur "Rapp-Auktion", ein Versteigerungsakt in Millionenhöhe. Aber wer sammelt in der Schweiz überhaupt noch Briefmarken?

Peter Rapp ist selber kein Sammler. Aber die Leidenschaft dafür hat er von seiner philatelistischen Familie geerbt. Rapp, dessen AG in Will zu den bedeutendsten Briefmarken- und Münzenauktionshäusern der Welt zählt, organisierte seine erste Auktion1970 in einem Saal des Bahnhofbuffets in Zürich.

41 Jahre später besitzt die Familie Rapp ihr eigenes Auktionsgebäude in Wil. Dort arbeiten fünf festangestellte Personen, und vor den Auktionen werden bis zu 50 Leute beschäftigt. Der Umsatz der Verkäufe an den Auktionen übertrifft jedes Mal die 10-Millionen-Franken-Grenze. 1980 gab es einen Rekordumsatz von 33 Millionen – eine Zahl, die im Guinness Book registriert wurde.

Sichere Währung

Seit kurzem versteigert die Rapp AG auch Münzen. An der Auktion, die vom 21. bis 25. November dauert, wird also auch eine grosse Zahl seltener und alter Münzen unter den Hammer von Peter Rapp kommen. So wie zum Beispiel die Goldmedaille eines Fussballspielers der legendären ungarischen Nationalmannschaft von Top-Star Puskàs, die 1952 in Helsinki Olympiasiegerin und zwei Jahre später in Bern, wo sie im Final gegen Deutschland verlor, Vizeweltmeister wurde.

Auch ein äusserst seltenes Stück – eine 10-Dukaten-Goldmünze, 1578 in Hamburg geprägt – wird versteigert werden. Einstiegspreis: 50’000 Franken.

Bei den Briefmarken übersteigen gewisse Exemplare diese Summe klar. 2008 verkaufte Rapp eine “Rayon I” aus dem Jahr 1850 für 348’000 Franken, ein absoluter Rekord für eine Schweizer Briefmarke. Und an der letztjährigen Auktion gingen in Wil eine “Double de Genève” (“Doppelgenf”) von 1844, die erste vom Kanton Genf herausgegebene Briefmarke, für 270’000 Franken über die Bühne sowie ein 1849 mit einer halben “Zürich 4 Rappen”-Marke in Zürich abgestempelter Brief für 180’00 Franken. In beiden Fällen hat der Verkaufspreis den zu Beginn der Auktion von Rapp geschätzten Preis um mehrere 10’000 Franken überschritten.

Für die kommende Auktion werden Umsätze in zweistelliger Millionenhöhe erwartet. Im Saal oder überall anderswo (man kann auch im Internet an der Auktion teilnehmen) werden die Sammler die Tendenz zur Wertsteigerung des Briefmarkenhandels – eine sichere Währung unter anderen – bestätigen.

Die Reichen und die Armen

“Wenn die Börse sich abschwächt, steigt der Preis für Briefmarken”, sagt Helmut auf der Maur vom Berner Philatelie-Geschäft Zumstein, Herausgeberin des Referenzkatalogs für Briefmarken aus der Schweiz und Liechtenstein.

Aber von welchen Briefmarken ist die Rede? Während nämlich die Auktionspreise boomen, sind die Philatelie-Geschäfte nicht auf Rosen gebettet. Helmut auf der Maur beschreibt den Geschäftsgang von Zumstein vorsichtig: “Man kann nicht sagen, dass es sehr schlecht läuft, aber man kann auch nicht sagen, dass es sehr gut läuft. Wir haben praktisch die ganze Kundschaft verloren, die monatlich Briefmarken für 200 Franken kaufte. Jetzt gibt es noch die kleinen Kunden, die Anfänger, und die grossen. Aber in der Mitte gibt es nichts mehr.”

Die Philatelie, praktisch zur gleichen Zeit wie die Briefmarke selbst entstanden, soll also nicht mehr die, wie auf der Internetseite von Zumstein steht, “weltweit beliebteste Freizeitbeschäftigung” sein? Tatsache ist, dass jedenfalls in der Schweiz die Sammler immer älter werden, wie die Philatelie-Geschäfte und ihre Besitzer. Vor fünf Jahren zählte der Schweizer Briefmarken-Händler-Verband (SBHV) noch 59 Mitglieder, heute lediglich noch deren 53. Und alles deutet darauf hin, dass sich dieser Abwärtstrend fortsetzten wird.

Eine leidenschaftliche Affäre

Diese Tendenz bestätigt Jean-Paul Bach, Händler und Auktionator in Basel und SBHV-Präsident. “Ja, die globale Anzahl der Sammler nimmt seit Beginn des Computerzeitalters ab. Sicher gibt es noch einen ‘harten Kern’, und für die grossen Stücke hat es genügend Klienten.”

Sind die Klienten, die für Zehn-, ja Hunderttausende von Franken für Briefmarken ausgeben, einfach auf der Lauer nach einer guten Finanzanlage? “Nein, es ist vor allem die Freude am Sammeln”, sagt Bach. “Sie geben nicht derart hohe Summen aus, wenn Sie nicht die Leidenschaft haben. Es gibt sicher Leute, die das als eine reine Finanzanlage betrachten, namentlich Russen, und noch mehr Chinesen. Aber allgemein haben die grossen Käufer eine Affinität zu den Briefmarken.

Im Tagesgeschäft dagegen läuft es nach Ansicht von Jean-Paul Bach “harziger als in den 80er-Jahren”. Was er besonders bereut ist das Desinteresse für Philatelie der heranwachsenden Generationen. “Es gibt zwar noch Kinder und Jugendliche, die Briefmarken sammeln, aber nicht genug. Zusammen mit der Schweizer Post suchen wir nach Mitteln, die Jungen zu motivieren, aber das ist nicht leicht.”

Tod der Briefmarke?

Gerade die Schweizer Post kommt nicht umhin, den langsamen, aber unerbittlichen Niedergang der Briefmarke zur Kenntnis zu nehmen, ebenso des Briefverkehrs. Und das, obwohl sich die Post um aussergewöhnliche Produkte bemüht: eine Briefmarke aus Holz, eine gestickte Briefmarke oder eine mit Schokoladearoma parfümierte Briefmarke.

“Ich weiss nicht, ob es noch Leute gibt, die Briefe schreiben”, sagt Mariano Masserini, Sprecher des Gelben Riesen, unverblümt. “Aber die Zahlen sprechen Klartext: Die grosse Mehrheit der zwei Milliarden adressierten Briefe, welche 2010 (2009 2,4 Milliarden) per Post verschickt wurden, kam von Unternehmen oder Amtsstellen und waren nicht mit Briefmarken, sondern mit elektronischen Etiketten frankiert.”

In den letzten 15 Jahren hat die jährliche Auflage von Schweizer Briefmarken um die Hälfte abgenommen, von 600 auf 300 Millionen Stück. Trotz des Erfolgs von gewissen Vignetten mit Bildnissen von Pingu, Alinghi oder Roger Federer ist die Abonnentenzahl für den philatelistischen Dienst der Post von 200’000 im Jahr 1990 auf heute 70’000 gesunken.

Dennoch könnte man den Leuten, vor allem den Jungen zeigen, “dass hinter den Briefmarken Geschichte, Geografie und ein ganzer Haufen spannender Sachen stehen”, sagt Jean-Pierre Bach. Für den engagierten Philatelisten haben Briefmarken “enorm viel anzubieten, unabhängig von ihrem Marktwert. Es ist eine Kulturgeschichte, eine Zeitgeschichte”.

Mitte 19. Jahrhundert gab es die Post schon seit Langem, aber Briefmarken verwendete man noch nicht.

Die Portokosten wurden dem Empfänger belastet und waren oft sehr hoch.

Die königliche Post in Grossbritannien führte als erste die Briefmarke ein.

Am 6. Mai 1840 wurde die erste Briefmarke herausgegeben, die “One-Penny-Black”, die älteste Briefmarke der Welt, mit dem Kopf von Königin Victoria.

Seit 1843 ziehen die Schweizer Kantone Zürich (4 und 6 Rappen) sowie Genf (“Doppel” 2×5 Rappen) nach.

1845 entsteht das berühmte “Basler Tübeli”, die erste farbbedruckte Briefmarke der Welt.

Im gleichen Jahr kommt der amerikanische “Blue Boy”, auf blauem Papier, 1849 der “Schwarze Bayern-Einser” aus Deutschland und der französische “Cérès”. 

Um 1860 wird die Post mit der Entwicklung der Eisenbahn und der Schiffspost zum begehrtesten Kommunikations-Mittel für die Leute.

Der Begriff Philatelie wurde 1864 vom Franzosen Georges Herpin in der der Briefmarkensammler-Zeitschrift Le Collectioneur de timbres-postes geprägt.

Philos heisst auf Griechisch Freund, Ateleia bedeutet Abgabenfreiheit).

Es sind vor allem Männer, die Briefmarken sammeln. Mit ein paar Ausnahmen, welche die Regel bestätigen.

So zählt etwa Königin Elisabeth II zu den Briefmarkensammlerinnen oder auch die glamouröse Tennisspielerin  Maria Scharapowa.

Der Wert einer Sammlung kann auch vom Eigentümer abhängen. So wurde das Briefmarken-Album von John Lennon nach dessenTod für 53’000 Dollar verkauft.

Auch Ron Wood, der zweite Gitarrist der Rolling Stones, soll  Briefmarken gesammelt haben.

Und in der Schweiz war der Schokoladen-Fabrikant Rudolf Sprüngli bereits im 19. Jahrhundert ein leidenschaftlicher Philatelist.

(Quelle: Bilanz)

(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)

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