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Täter hinterlassen Opfer

Ein Velofahrer gerät vor ein Auto
Opfer von Verkehrsunfällen erhalten bei der Opferberatung Unterstützung. Im Bild eine Simulation. Keystone

Kaum ein Land hat eine derart gute Opferhilfe wie die Schweiz. Wer verprügelt, von einem Auto angefahren oder mit einem Messer attackiert wurde, kann sich an eine der über das ganze Land verteilten Opferberatungsstellen wenden. Wie funktioniert das konkret?

Die pensionierte Bäuerin Bertha Ammann* aus dem Berner Oberland ist eine tüchtige und fröhliche Frau. Nichts verrät ihr schweres Schicksal, während sie selbstgebackene Züpfe, Wurst und Käse auftischt und den Besuchern von den Hobbys der Enkelkinder erzählt. Wenn sie im Garten arbeite und der “Täter” vorbeigehe – sie selbst nennt ihn nicht so –, dann winke sie ihm zu. Meist winke er zurück.

“Ich bin dankbar”, sagt Frau Ammann. “Am Ende ist es besser gekommen, als erwartet.” Besser, als erwartet, das heisst: Frau Ammann hat Glück, dass sie noch am Leben ist. Sie spricht sachlich und nüchtern von dem Unfall. Erst wenn ihr Mann die Geschichte erzählt, erahnt man, wie schlimm es tatsächlich gewesen sein muss.

Es war ein früher Herbstabend im September 2014: Die Ammanns halfen einem Bauern und dessen Sohn auf einer Wiese beim Abfüllen der Siloballen. Die Ammanns rechten von Hand das Gras zusammen, während Bauer und Sohn mit Traktoren und Ballenpresse von Grashaufen zu Grashaufen fuhren. Was dann passierte, bezeichnet Frau Ammann als “Missverständnis”, Herr Ammann als “Achtlosigkeit”: Der Bauernsohn fuhr eine andere Route als gewöhnlich, Frau Ammann hörte ihn nicht kommen, er sah sie offenbar nicht – die zierliche Frau geriet unter die tonnenschweren Traktorräder.

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Tragödie wird zum Gerichtsfall

Als der Traktor nicht mehr fuhr, dachte Herr Ammann – der am anderen Ende der Wiese stand – es handle sich um eine technische Panne. Nach einer Weile sei er schauen gegangen, was los sei. Der Bauer sei auf ihn zu gerannt und habe gesagt, es sei ein Unfall passiert, die Ambulanz sei bereits auf dem Weg.

Herr Ammann erinnert sich, wie er nach einem Blick auf seine am Boden liegende Frau geschrien habe: “Das ist kein Fall für die Ambulanz, alarmiert die Rega!” Er kämpft mit den Tränen, während er berichtet, wie schlecht es um seine Frau stand: Später, als sie im Spital fünf Mal notoperiert wurde – eine Operation dauerte acht Stunden – habe der Arzt ihm gesagt, es sehe nicht gut aus. Die Angst, die Herr Ammann um seine Frau ausstand, ist heute noch greifbar.

“Ich habe Bedauern mit dem jungen Mann”, sagt Herr Ammann. “Aber ich verstehe nicht, warum er den Gerichtsfall weitergezogen hat.” Der Lenker des Traktors erhielt nach dem Unfall einen Strafbefehl wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung und wehrte sich dagegen bis vor Obergericht. Hätte er den Strafbefehl akzeptiert, wäre es bei einer Busse geblieben und niemand hätte von der Sache erfahren, meint Herr Ammann. Aber so berichteten die Zeitungen über den Fall und am Ende hatte der junge Mann nichts davon: Die Richter verurteilten ihn zu einer bedingten Geldstrafe. Die Ammanns sind überzeugt, dass der junge Mann von seiner Anwältin schlecht beraten und zum Weiterzug gedrängt worden ist.

Soforthilfe von der Opferberatung

Frau Ammann hingegen wurde gut beraten, und zwar von der Berner OpferhilfeExterner Link. Die Beratungsstelle war von der Polizei über den Unfall informiert worden und rief Frau Ammann im Spital an, um zu erfahren, welche Hilfe sie benötigte. Die Beraterin vermittelte Frau Ammann schleunig einen auf Unfälle und Haftpflichtrecht spezialisierten Anwalt. Dieser regelt nun für Frau Ammann die komplizierten Details mit Haftpflicht-, Unfall- und Krankenversicherung.

Nachdem Frau Amman nach über dreieinhalb Monaten Spital- und Pflegeheimaufenthalt endlich nach Hause konnte, machte die Beraterin von der Opferhilfe zusammen mit dem Anwalt einen Hausbesuch. Die Beraterin half Frau Ammann mit den komplizierten Gerichts- und Versicherungsunterlagen und begleitete sie an die Gerichtsverhandlung. Dreieinhalb Jahre nach dem Unfall ist noch immer nicht alles geregelt.

Das ist in der Schweiz nicht ungewöhnlich. Die Verfahren dauern lange. Bis geklärt ist, welche Versicherung für welchen Schaden aufkommen muss, bezahlt das Opfer die Rechnungen selbst. Wer das Geld nicht hat, muss zur Sozialhilfe – das komme ab und zu vor, heisst es bei der Berner Opferhilfe. Als “Soforthilfe” kann die Opferhilfe die ersten 4 Stunden Anwalt, 10 Stunden Psychotherapie, 21 Tage Unterkunft oder Lebensunterhalt, sowie weitere materielle Hilfen bezahlen.

Früher mit Fäusten, heute mit Messern

Die Opferhilfe Bern wurde 1994 gegründet. Zuvor war ein neues GesetzExterner Link in Kraft getreten, das die Kantone verpflichtete, Beratungsstellen für Opfer von Straftaten zur Verfügung zu stellen. Eine Volksinitiative der Zeitschrift “Beobachter” hatte die Sache ins Rollen gebracht, nachdem in der Schweiz Opfer von Straftaten jahrzehntelang keinerlei Unterstützung erhielten.

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“Die Schweizer Opferhilfe ist heute sehr umfassend”, sagt Pia Altorfer, Leiterin der Beratungsstellen Opferhilfe Bern und Biel. Die Opferhilfe bietet Betroffenen von Straftaten, deren physische, psychische oder sexuelle Integrität verletzt worden ist, Beratung und finanzielle Hilfen an. Dies können sein: Lebensunterhaltskosten, Notunterkünfte, juristische oder psychologische Fachpersonen und weitere materielle Hilfen. Im Weiteren begleitet die Opferhilfe die Betroffenen zu Befragungen bei der Polizei, Staatsanwaltschaft oder am Gericht. Bei komplexen Fällen – wie bei Frau Ammann – vermittelt sie einen spezialisierten Anwalt.

Die Beratungsstellen in Bern und Biel behandeln rund 1600 Fälle pro Jahr. Ein Drittel der Fälle betrifft häusliche Gewalt, ein weiteres Drittel Verkehrsunfälle. Auch Körperverletzungen, Drohungen und Nötigungen, sexuelle Übergriffe, Stalking, Arbeitsunfälle und Ärztefehler sind relativ häufige Delikte, bei denen die Opferhilfe ihre Dienste anbietet.

Die Beratungsstelle sei sehr ausgelastet, sagt Altorfer. Die Fallzahlen seien in den letzten Jahren gestiegen – auch in anderen Kantonen. “Die Opferhilfe ist bekannter als noch vor ein paar Jahren. Wir machen viel Öffentlichkeitsarbeit.” Aber sie stellt auch fest, dass die Gewaltbereitschaft allgemein gestiegen sei – und die Taten heftiger würden. “Das ist mein persönlicher Eindruck: Früher ging man mit Fäusten aufeinander los, heute zückt man das Messer.”

* Namen sind zum Schutz aller Betroffenen geändert.

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