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Lösung für Kroatien in Sicht, aber nicht für die Zuwanderungsbremse

Der Ständerat will der Regierung keine Carte Blanche geben: Die Personenfreizügigkeit wird erst auf Kroatien ausgedehnt, wenn eine Lösung mit der EU zur Steuerung der Zuwanderung gefunden wurde. PETER MOSIMANN

Für die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien im Rahmen der bilateralen Verträge mit der EU hat das Schweizer Parlament praktisch grünes Licht gegeben. Doch eine Einigung mit der EU zur Umsetzung der 2014 vom Volk angenommenen Volksinitiative "Gegen Masseneinwanderung" scheint noch in weiter Ferne. 

Die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien hat für die Schweiz eigentlich keine grosse Bedeutung. Das Abkommen mit der EU zur Personenfreizügigkeit wurde 1999 unterzeichnet. Es gilt heute bereits für 27 EU-Länder mit einer Bevölkerung von mehr als 500 Millionen Einwohnern.

Kroatien zählt gerade mal 4 Millionen Einwohner. Und auf der Grundlage des zwischen Bern und Brüssel ausgehandelten Abkommens würde die Schweiz nicht mehr als 300 neue Aufenthaltsbewilligungen für kroatische Staatsbürger pro Jahr erteilen – zumindest im ersten Jahrzehnt nach Inkrafttreten des Vertrags.

Das Kroatien-Dossier, um das seit drei Jahren gerungen wird, ist Ausdruck des Dilemmas, in das die Schweizer Regierung und das Parlament als Folge der direkten Demokratie immer häufiger rückt. Gemeint ist die Schwierigkeit, Volksentscheide mit internationalen Vereinbarungen in Einklang zu bringen, sowie – wie im Falle von Kroatien – internationale Abkommen mit Bestimmungen der Schweizer Bundesverfassung.

Personenfreizügigkeit Schweiz –EU

Das Abkommen der Personenfreizügigkeit ist 2002 mit dem ersten Paket der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU in Kraft getreten. Mit diesem Abkommen erhalten Staatsangehörige der Schweiz und der EU-Mitgliedstaaten grundsätzlich das Recht, Arbeitsplatz bzw. Aufenthaltsort innerhalb der Staatsgebiete der Vertragsparteien frei zu wählen.

Das Abkommen betraf anfänglich 15 EU-Mitgliedsstaaten. 2006 wurde die Personenfreizügigkeit auf weitere 10 Länder ausgedehnt, die 2004 Mitglied der EU geworden waren. Die SVP und weitere Rechtsparteien hatten das Referendum ergriffen. Doch 2005 sagten 56 Prozent der Stimmenden Ja zur Ausdehnung auf die neuen EU-Staaten.

2009 befürwortete das Schweizer Stimmvolk sogar mit 59,6 Prozent Ja-Stimmen die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Bulgarien und Rumänien, die 2007 EU-Mitglieder geworden waren. Auch in diesem Falle hatte die Rechte ein Referendum ergriffen.

Die Ausdehnung auf Kroatien als jüngstes EU-Land war seit der Annahme der SVP-Volksinitiative “Gegen Masseneinwanderung” am 9.Februar 2014 blockiert. 50,3 Prozent der Stimmenden sagten damals Ja zur Einführung von Höchstzahlen und Kontingenten, um die Zahl ausländischer Arbeitskräfte in der Schweiz zu begrenzen.

Unterzeichnung suspendiert

Die Vereinbarung mit Kroatien war 2013 ausgehandelt worden. Die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit erschien damals wie eine Formalität im Rahmen der komplexen Beziehungen zwischen Bern und Brüssel. Nicht einmal das von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) angedrohte Referendum brachte das Verhandlungsergebnis ins Wanken. Die rechts-nationale Partei hatte zuvor bereits erfolglos gegen die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf 10 Staaten opponiert, die der EU im Jahre 2004 beigetreten waren, sowie gegen Rumänien und Bulgarien, die 2007 EU-Mitglieder geworden waren.

Doch das Kroatien-Dossier wurde zu einem explosiven Thema, nachdem das Schweizer Volk am 9.Februar 2014 die Initiative „Gegen Masseneinwanderung“ der SVP angenommen hatte. Der angenommene Verfassungsartikel 121a besagt nämlich, dass die Schweiz die Zuwanderung eigenständig steuert sowie die Bewilligungen für den Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente begrenzt werden. Zudem heisst es: „Es dürfen keine völkerrechtlichen Verträge abgeschlossen werden, die gegen diesen Artikel verstossen.“

Nach der Volksabstimmung entschied die Schweizer Regierung daher, die Unterschrift über das Zusatzprotokoll zum Abkommen über die Personenfreizügigkeit mit der EU, das besagte Kroatien-Protokoll, vorläufig auszusetzen. Der Bundesrat war der Auffassung, dass dieses Protokoll wie ein neuer völkerrechtlicher Vertrag gesehen werden müsse, der im Widerspruch zum Art. 121a der Bundesverfassung stehe.

Die Reaktion der EU folgte postwendend: Innerhalb von wenigen Tagen setzten die 28 EU-Staaten eine Reihe von Dossiers aus, darunter die Teilnahme der Schweiz am europäischen Forschungsprogramm Horizon 2020 und dem europäischen Studentenaustauschprogramm Erasmus+. Es geht um Milliardenbeträge.

Deadline naht

Die Retourkutsche der EU rief nicht nur Wissenschaftskreise und Universitäten auf den Plan, sondern auch die Wirtschaft: Denn der Erfolg Schweizer Unternehmungen ist zu einem Grossteil von der Innovationskraft und der Ausbildung an den Hochschulen abhängig. Die Schweizer Regierung teilte darauf Brüssel mit, dass es die Personenfreizügigkeit auf Kroatien ausgedehnt hätte, auch ohne die Unterzeichnung des Zusatzprotokolls. Daraufhin hat die EU die Schweiz wieder an den europäischen Programmen teilhaben lassen – zumindest teilweise und begrenzt bis Ende 2016.

Diese Deadline naht nun, genauso wie diejenige zur Umsetzung des neuen Verfassungsartikels 121a. Demnach muss die Einwanderungsbremse innert drei Jahren nach der Abstimmung umgesetzt sein, das heisst bis zum 9.Februar 2017. Angesichts des Zeitdrucks hat die Regierung am 4.März das Zusatzprotokoll mit Kroatien unterzeichnet und umgehend dem Parlament zur Beurteilung unterbreitet.

Begründet wurde dieser Schritt von der Regierung mit dem Eindruck, dass im Jahr 2015 eine gewisse Bereitschaft von Seiten der EU zu erkennen war, eine einvernehmliche Lösung zu finden, die es der Schweiz erlaubt, die in der Verfassung verankerte Einwanderungsbremse umzusetzen, ohne das Abkommen zur Personenfreizügigkeit mit der EU zu verletzen.

“Dem Druck nachgegeben”

Während der Debatte im Nationalrat Ende April hat die SVP dieses Vorgehen der Regierung hart kritisiert. Insbesondere Justiz- und Polizeiministerin Simonetta Sommaruga (SP) wurde angegriffen. Sie ist für dieses Dossier zuständig. Gemäss der SVP zeige die Unterschrift unter das Kroatien-Protokoll, dass der Bundesrat dem Druck der EU nachgegeben habe und erpresst worden sei. Dies sei angesichts des Artikel121a ein Verstoss gegen die Verfassung.

Gleichwohl stimmte eine komfortable Mehrheit des Nationalrats dem Protokoll und damit der Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien zu. Viele Abgeordnete unterstrichen die ausserordentliche Bedeutung für den Wirtschafts- und Forschungsstandort Schweiz, an den europäischen Forschungsprogrammen teilhaben zu können. Einige Parlamentarier meinten sogar, das Kroatien-Protokoll könne nicht eigentlich als neuer internationaler Vertrag gesehen werden. Es handele sich vielmehr um die Verlängerung eines bereits existierenden Vertrags mit der EU.

In der aussenpolitischen Kommission des Ständerats waren jedoch Zweifel aufgekommen. Sie verlangte beim Bundesamt für Justiz ein Gutachten. Und diese Expertise kam zu Schluss, dass es sich beim Kroatien-Protokoll tatsächlich um einen neuen internationalen Vertrag handelt. Doch das Wort „Abschluss“ eines Vertrags müsse wie „Ratifizierung“ gelesen werden. Mit anderen Worten: Die Unterzeichnung des Vertrags und die Zustimmung des Parlaments verletzten Artikel 121a der Verfassung nicht.

Ein eingeschränktes Ja

Nun hat der Ständerat am Donnerstag dem Kroatien-Protokoll zugestimmt. Allerdings hat der Ständerat eine zusätzliche Bedingung beschlossen, wonach der Bundesrat die Personenfreizügigkeit erst dann auf Kroatien ausdehnen kann, wenn er mit der EU eine verfassungskonforme Lösung zur Steuerung der Zuwanderung gefunden hat. So soll die Verfassung respektiert werden.

Eine Minderheit der Ständeräte hielt diese Zusatzbedingung für überflüssig. Gleichwohl wird wohl auch der Nationalrat zustimmen. In jedem Fall ist somit klar, dass das Kroatien-Protokoll grünes Licht vom Parlament erhält. Weniger klar ist, ob es je in Kraft tritt. Denn viele Parlamentarier sind skeptisch, dass eine Einigung mit der EU in Bezug auf die Zuwanderungsbremse gefunden werden kann.


Sollte die Schweiz eine Klausel zur Beschränkung der Zuwanderung einführen, auch wenn dadurch die Beziehungen zur EU, dem wichtigsten Handelspartner, aufs Spiel gesetzt werden?

Wir sind gespannt auf Ihre Antworten in den Kommentaren.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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