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Peter von Matt im Kreis der geehrten Dichter (1)

Renommierte Auszeichnung für den Schweizer Essayisten Peter von Matt. Keystone

Der Schweizer Autor und Literaturwissenschafter Peter von Matt hat für sein Werk "Die tintenblauen Eidgenossen" den europäischen Essay-Preis "Charles Veillon" erhalten.

Christian Raaflaub sprach mit Peter von Matt über die Schweiz und Europa.

swissinfo: Politisch sind wir in der Schweiz weit von Europa entfernt, literarisch bringen Sie uns Europa mit diesem Preis wieder näher. Wie fühlt man sich, in den Kreis der “erlauchten” europäischen modernen Literaten aufgenommen zu werden?

Peter von Matt: Das ist an sich ein sehr schönes Gefühl. Schweizer Künstler und Kulturschaffende haben eigentlich immer europäische Verbindungen. Denn kulturell ist die Schweiz nicht von Europa entfernt, sondern ein intensiver und integrierter Teil von Europa.

Es gibt keine autonome, selbsttragende Kultur der Schweiz. Es gibt nur die kulturelle Arbeit, die in der Schweiz geleistet wird. Und die immer schon vernetzt war mit Deutschland, Frankreich oder Italien.

swissinfo: Nach Iso Camartin erhält schon wieder ein Schweizer den Veillon-Preis. Haben wir das Potenzial für noch mehr?

P.v.M.: Potenzial gibt es in diesem Land eigentlich immer und überall. Solche Preise sind immer auch eine gewisse Lotterie. Man kann nicht von den Preisen aus so etwas wie absolute Bestenlisten aufstellen.

swissinfo: Treten Sie mit dem europäischen Bezug dieses Preises nun schon bald in die Fusstapfen von Dürrenmatt und Frisch?

P.v.M.: (Lacht) Nein, das ganz sicher nicht. Es ist ja ein Preis für essayistische Prosa, für Sachtexte, welche aber durchaus literarische Qualität haben. Der Essay findet in der Schweiz in der Tradition viel weniger Beachtung, als es in England oder Frankreich absolut selbstverständlich ist. Dort ist das essayistische Schreiben ein Teil der Literatur.

Während bei uns immer noch der Gedanke vorherrscht: Literatur, das seien Gedichte und Romane und Theaterstücke, und dann komme ganz lange nichts mehr. Aber Literatur ist für mich geformte, verantwortete Sprache. Und das kann in allen möglichen Sparten geschehen.

swissinfo: Setzt die Schweiz hier eine zu enge Grenze zwischen Journalismus und Dichtung?

P.v.M.: Ja, eine zu absolute Grenze. Weil es auch Journalisten gibt, die in bestimmten Teilen ihres Arbeitens auf ein Niveau, auf eine Gestaltungskraft kommen, die sich mit jeder literarischen Gestaltung vergleichen lässt.

So wie es umgekehrt immer auch grosse Autoren gegeben hat, die in ihren Texten für die Öffentlichkeit journalistische Texte geschrieben haben, die dann aber auch etwas von diesem Format gehabt haben. Und solche Leute hat es immer gegeben. Auch in der Schweiz.

swissinfo: Hat die Schweiz eine literarische Stimme in Europa?

P.v.M.: Die Schweiz hat immer insofern in Europa eine Stimme gehabt, als es die Stimmen von einzelnen gewesen sind. Sie können auch nicht sagen: “Die Schweizer Bildhauerei hat durch Giacometti eine Stimme in der Weltkunst erhalten.”

Sondern: Der Schweizer Giacometti ist einer der absoluten Spitzenkünstler des 20. Jahrhunderts geworden. Und da bin ich stolz drauf, als Schweizer, dass dieser Giacometti ein Schweizer ist. Aber zu sagen, “die Schweiz ist in Giacometti verdichtet”, erscheint mir als eine falsche Schlussfolgerung.

swissinfo: Wie schätzen Sie das Gewicht der Schweizer Intellektuellen in Europa ein?

P.v.M.: Das geht in die gleiche Richtung. Es ist das Gewicht des einzelnen Intellektuellen, der, wenn er Gewicht hat, auch von Europa nicht primär als Schweizer wahrgenommen wird. Man weiss, dass er ein Schweizer ist, aber er ist primär derjenige, der diese und diese Leistungen erbringt.

Ein anderes Beispiel, im Bereich des Schauspiels, ist Bruno Ganz: Da weiss man, dass er ein Schweizer ist. Er ist einer der grössten, wenn nicht der grösste deutschsprachige Schauspieler im Moment. Aber er wird nicht primär als Schweizer betrachtet, sondern als grosser Schauspieler, der aus der Schweiz stammt.

Wie die wahrscheinlich wichtigste Welt-Präsenz der Schweiz im Bereich der Kultur: Die Architektur. Die grossen, erfolgreichen Schweizer Architekten rund um den Globus sind gute, wichtige, herausragende, moderne Architekten, von denen man weiss, dass sie Schweizer sind. Aber man betrachtet sie nicht primär als Schweizer, sondern als Architekten.

swissinfo: Bringen unsere Vielsprachigkeit und der Föderalismus einen anderen Typus von Literatur hervor?

P.v.M.: Das glaube ich nicht. Eine Autorin, ein Schriftsteller, der in der Schweiz schreibt, schreibt aus seiner Sprache heraus. Das heisst: Aus der Tradition dieser Sprache.

Und diese Tradition ist die Gleiche in der Schweiz wie auch im betreffenden europäischen Land. Die Tradition der deutschen Sprache, die auch in Österreich, in Prag, in ganz Deutschland und in der deutschen Schweiz gesprochen und geschrieben wird, macht den Autor aus.

Aber dass Frisch oder Dürrenmatt in einem Land gelebt haben, in dem auch noch französisch und italienisch gesprochen wird, hat für ihr Werk überhaupt keine Bedeutung und keinen Einfluss gehabt.

Und so, nehme ich an, ist es auch für einen Mann wie Ramuz oder für die Tessiner Autoren, die zum Teil in Italien sehr angesehen sind.

swissinfo: Ihre eigene Literatur ist Sachliteratur mit belletristischen Mitteln. Ist das etwas typisch Schweizerisches?

P.v.M.: Nein, das würde ich nicht sagen. Seit es den Typus des modernen Intellektuellen gibt, seit dem 18. Jahrhundert also, seit es eine intellektuelle Öffentlichkeit gibt – mit entsprechenden Verlagen und Publikationen – gibt es auch den Typus eines Autors, der über Literatur selbst schreibt.

Als Kritiker, als Rezensent. Aber auch als Bücherschreiber, der die Welt der Literatur, ihre Grundfragen, die Kunst im Kontext der Literatur behandelt und darüber schreibt. Das hat es seither immer gegeben.

Es gibt in der Schweiz aber schon eine gewisse Tradition mit solchen Namen und Köpfen. Ich denke da an Max Richner, der in der Nachkriegszeit einer der wichtigsten literarischen Köpfe im deutschen Sprachraum war. Ähnliche Figuren gibt es auch in der Westschweiz.

swissinfo: Eher Sachliteratur und Essays statt epochale Liebesgeschichten. Ist es das, was Europa von Schweizer Autoren erwartet?

P.v.M.: Ganz sicher nicht. Europa erwartet von der Schweiz eigentlich gar nichts. Aber Europa nimmt gerne zur Kenntnis, wenn aus der Schweiz etwas kommt, das etwas Wert ist.

Wir erwarten auch nicht etwas Bestimmtes von Dänemark. Aber wenn in Dänemark plötzlich ein Autor erscheint, der grossartige Bücher schreibt, dann nehmen wir das gerne zur Kenntnis, und es freut und fasziniert uns. Und wir denken: “Ja, ja – die Dänen sind schon auch was!”

swissinfo-Interview: Christian Raaflaub

Der europäische Essay-Preis “Charles Veillon” existiert seit 1975.

Er wird an Werke verliehen, die “ein Zeugnis unserer Zeit oder eine fruchtbare Kritik der zeitgenössischen Gesellschaften, ihres Lebensstils und ihrer Ideologien verkörpern”.

Die Preisverleihung fand am 16. Januar im Kultur- und Kongresszentrum Luzern statt.

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