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POLITIK/Prognosen: Konservative stärkste Kraft in Grossbritannien

LONDON (awp international) – Grossbritannien steht aller Voraussicht nach ein Regierungswechsel bevor: Die EU-kritischen Tories mit Spitzenkandidat David Cameron sind ersten Prognosen zufolge mit 307 Sitzen im Parlament stärkste Kraft bei den Wahlen am Donnerstag geworden. Allerdings verfehlten sie die absolute Mehrheit und sind auf die Zusammenarbeit mit mindestens einer anderen Partei angewiesen.
Die regierende Labour-Partei wurde der Prognose zufolge mit 255 Sitzen zwar klar zweite Kraft, musste aber erdrutschartige Verluste von rund 100 Sitzen hinnehmen. Die Liberaldemokraten verfehlten die an sie gestellten hohen Erwartungen und kamen der Prognose zufolge auf 59 Sitze. Das amtliche Ergebnis wurde für Freitagmorgen erwartet.
Sollten sich die Prognosen bestätigen, könnte das für Premierminister Gordon Brown persönliche Konsequenzen haben. Er hatte im Wahlkampf nicht nur für eine vierte Amtszeit seiner Labour-Partei gekämpft, sondern auch ums eigene politische Überleben. Eine Niederlage wäre dramatisch für ihn, da er sich zum ersten Mal als Premier zur Wahl stellte. Brown hatte vor knapp drei Jahren das Amt von Tony Blair ohne Neuwahl übernommen. Möglich ist, dass er rasch als Parteichef zurücktritt. In den letzten Tagen des Wahlkampfes wurde bereits über Nachfolger spekuliert.
Für die Prognose der Sender BBC, ITV und Sky waren 18.000 Wähler in 130 Wahllokalen unmittelbar nach der Stimmabgabe befragt worden. Sollte tatsächlich keine der Parteien mit 326 Sitzen die absolute Mehrheit gewonnen haben – wonach es den Prognosen nach aussah – muss eine Minderheitenregierung gebildet werden. Ein solches “hung parliament” gab es in Grossbritannien zuletzt 1974.
Für das “hung parliament” gibt es mehrere Optionen. So könnten die Liberaldemokraten und ihr Chef Nick Clegg zum “Königsmacher” werden und erstmals in ihrer Parteigeschichte mitregieren. Dabei wäre eine Zusammenarbeit mit den Tories möglich. Die Tories könnten der Prognose zufolge auch von kleineren Parteien wie etwa den Regionalparteien aus Nordirland oder Wales toleriert werden. Damit könnte Cameron als neuer Premier in die Downing Street einziehen.
Cameron hatte im stark von der Wirtschaftskrise geprägten Wahlkampf angekündigt, sich sofort an den Abbau des britischen Schuldenberges machen zu wollen. Ausserdem fährt er einen europakritischen Kurs und will so wenig Machtbefugnisse wie möglich an Brüssel abgeben. Brown hingegen hatte darauf gepocht, dass weiterhin Geld in die Wirtschaft gepumpt werden müsse, bevor das Sparen losgehen könne. Nur so sei ein Zurückrutschen in die Rezession zu verhindern. Clegg setzte sich vor allem für eine Reform des Wahlsystems ein, das seiner Ansicht nach nicht die Stimmung im Volk widerspiegelt und kleinere Parteien benachteiligt.
Rund 44 Millionen Wahlberechtigte waren dazu aufgerufen, einen Abgeordneten für das Unterhaus zu wählen. Die Wahlbeteiligung wurde mit rund 66 Prozent deutlich höher erwartet als bei der zurückliegenden Wahl 2005, als 61,4 Prozent der Stimmberechtigten an die Urnen gingen.
Eigentlich sind die Briten daran gewöhnt, dass sie innerhalb weniger Stunden nach der Wahl eine neue Regierung haben. Der Wahlsieger fährt traditionell am Tag nach der Wahl zur Queen, die ihn mit der Regierungsbildung beauftragt. Am 25. Mai ist die Thronrede angesetzt, bei der die Königin das Regierungsprogramm für das erste Jahr der Legislaturperiode verliest.
Labour hatte 1997 mit Blair an der Spitze die Macht erobert. Danach gewann Blair noch zweimal. Bei der jüngsten Wahl im Jahr 2005 kam Labour auf rund 35 Prozent, die Konservativen auf 32 Prozent und die Liberaldemokraten auf 22 Prozent. In letzten Umfragen hatten die Tories von Parteichef David Cameron bei rund 36 Prozent der Stimmen, Labour bei 28 Prozent und die Liberaldemokraten bei 26 Prozent gelegen./gür reu z2/DP/he

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