Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Bundesrat kommt dem Tessin entgegen

Tritt für eine zweite Röhre ein: Verkehrsministerin Doris Leuthard. Keystone

Der Bundesrat will mit einer zweiten Röhre auch während der Sanierung des Gotthard-Strassentunnels eine potente Strassenverbindung in das Tessin sicherstellen. Der Widerstand gegen den bundesrätlichen Entscheid ist programmiert.

Bereits zweimal hat sich das Schweizer Stimmvolk gegen eine zweite Gotthard-Röhre ausgesprochen.

Seit dem Ja zur Alpenschutz-Initiative im Jahr 1994 ist die Verlagerung von der Strasse auf die Schiene und das Verbot einer zweiten Röhre in der Verfassung verankert.

Nun hat der Bundesrat in einem Grundsatzentscheid beschlossen, im Hinblick auf die Sanierung des Gotthard-Strassentunnels eine zweite Röhre zu bauen. Damit der Alpenschutz-Artikel nicht verletzt wird, will er den lediglich einspurigen Betrieb beider Röhren in einem Gesetz festschreiben.

Der Bundesrat sei überzeugt, dass diese Sanierungsvariante sowohl unter dem Gesichtspunkt von Aufwand und Kosten als auch unter jenem der Sicherheit langfristig die sinnvollste sei, teilte das Bundesamt für Strassen mit.

Tessiner Anliegen

Zudem werde auf diese Weise dem Anliegen des Tessins Rechnung getragen, auch während der Sanierung eine gute Strassenanbindung in den Norden zu haben.

Die vom Bundesrat vorgeschlagene Variante soll insgesamt 2,8 Milliarden Franken kosten. Darin enthalten sind auch die Kosten, die anfallen, um den bestehenden Tunnel bis zu Eröffnung der zweiten Röhre länger betriebstauglich zu halten. In Betrieb genommen werden soll die neue Röhre im besten Fall im Jahr 2027.

Verschiedene Varianten

Der Bundesrat hatte auch andere Varianten geprüft. Letzten Dezember hatte er in einem Bericht dargelegt, dass der Gotthard-Strassentunnel auch saniert werden kann, ohne dass dazu vorher eine zweite Tunnelröhre gebaut werden muss.

In der Auslegeordnung hielt er fest, dass die 30 Jahre alte Gotthard-Strassenröhre in den nächsten 10 bis 15 Jahren saniert werden muss. Dabei sei eine vorübergehende Vollsperrung unumgänglich.

Als aus bautechnischer und finanzieller Sicht beste Variante zeichnete der Bericht die zweieinhalbjährige Vollsperrung aus. Bei dieser Variante hätten Sanierung (650 Mio.) und Massnahmen zur Umleitung des Verkehrs (559 bis 622 Mio.) rund 1,2 Milliarden Franken gekostet.

Die zweitbeste Variante, bei welcher der Tunnel über dreieinhalb Jahre nur während der Hauptreisezeit im Sommer geöffnet würde, hätte zwischen 1,38 und 1,42 Milliarden gekostet.

Referendum in Sicht

Nun hat sich der Bundesrat für den Bau der zweiten Röhre und der darauffolgenden Sanierung der ersten Röhre entschieden. Folgt das Parlament den bundesrätlichen Vorschlägen, ist ein Referendum gewiss.

Aus Sicht der Alpeninitiative und des links-grünen Lagers widerspricht die zweite Röhre dem Alpenschutz-Artikel. Gemäss dem Verfassungsartikel darf die Transitstrassen-Kapazität im Alpengebiet nicht erhöht werden.

Für die Tunnel-Gegner führt die zweite Röhre jedoch zu einer Kapazitätserhöhung. Es sei nämlich illusorisch zu glauben, dass diese dann auf ewig nur einspurig befahren werden dürfe.

Zudem verweisen die Gegner auf verschiedene Volksabstimmungen in der Vergangenheit, bei denen eine zweite Röhre abgelehnt worden war. Dass diese Mehrheiten nicht in Stein gemeisselt sind, zeigen jüngste Umfragen: Darin sprachen sich zwei Drittel der befragten Schweizerinnen und Schweizer für eine zweite Röhre aus. Mehr als die Hälfte der Befragten wollte aber nur einen Einspur-Betrieb.

Mehr

Mehr

Referendum

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Das (fakultative) Referendum erlaubt Bürgerinnen und Bürgern, das Volk über ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz entscheiden zu lassen. Falls das Referendumskomitee innerhalb von 100 Tagen 50’000 gültige Unterschriften bei der Bundeskanzlei einreichen kann, kommt es zu einer Abstimmung. Falls das Parlament Änderungen in der Bundesverfassung vornimmt, kommt es zu einem obligatorischen Referendum. Beim fakultativen Referendum…

Mehr Referendum

Sozialdemokraten dagegen

Widerstand gegen eine zweite Röhre ist auch aus der Westschweiz zu erwarten. Dort ist die Ansicht weit verbreitet, bei Infrastrukturprojekten in den letzten zwanzig Jahren zu kurz gekommen zu sein. Das Tunnelprojekt am Gotthard wird deshalb als unnötige Konkurrenz gesehen im Kampf um einen möglichst grossen Anteil am Kuchen.

Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SP) will den Bau einer zweiten Röhre mit einem Referendum verhindern. Der Entscheid des Bundesrats sei “höchst fragwürdig” und untergrabe den Willen des Volkes, welches sich für eine Verkehrsverlagerung auf die Schiene ausgesprochen habe.

“Röhrenturbos auf den Leim gekrochen”

Als “irrational” bezeichnet der Verein Alpeninitiative den Entscheid. Der Bundesrat sei “offensichtlich und dem unter dem Druck der Wirtschafts- und Strassenlobbies der Propaganda-Kampagne der Röhrenturbos auf den Leim gekrochen” und desavouiere “damit alle seine eigenen Experten”.

Eine zweite Röhre könne nicht rechtzeitig vor der Sanierung in Betrieb gehen. Der Bundesrat selber rechne mit einer Realisierungszeit von total 15 bis 22 Jahren. Spätestens 2025 müsste der Tunnel aber saniert sein, solle er weiterhin sicher betrieben werden können, schreibt der Verein Alpeninitiative.

“Im Interesse der Sicherheit”

Der Automobil Club der Schweiz (ACS) hingegen begrüsst den Vorschlag des Bundesrates. Damit werde sichergestellt, dass die “wichtigste Strassenverbindung in den Tessin während der für die Sanierung erforderlichen Totalsperrung von 900 Tagen nicht unterbrochen werden” müsse.

Eine Vollsperrung hätte für die Schweizer Bevölkerung und Wirtschaft gravierende Folgen, so der ACS, der nun “so rasch als möglich” den Bau der zweiten Röhre fordert.

Begrüsst wird der Entscheid auch vom Schweizerischen Nutzfahrzeugverband ASTAG. Im Interesse der Sicherheit sei es zwingend notwendig, dass zuerst eine zweite Röhre gebaut werde. Alle anderen Varianten mit einer Total- oder Teilsperrung seien “völlig illusorisch” und würden zu grossen volkswirtschaftlichen Schäden führen.

Am 5. Juni donnern an der Gotthard-Bahnstrecke bei Gurtnellen im Kanton Uri mehrere zehntausend Tonnen Gesteinsmassen auf die Geleise.

Ein Bauarbeiter wird verschüttet, zwei Menschen werden mittelschwer verletzt. Sie waren mit der Sicherung von Felsen einer früheren Absturzstelle beschäftigt. Der Tote kann erst nach Tagen mit einem ferngesteuerten Bagger geborgen werden.

Am 18. Juni muss aus Sicherheitsgründen ein 2000 Kubikmeter grosses Felsstück an der Abbruchstelle weggesprengt werden.

Wegen dem Bergsturz bleibt die wichtigste Güterstrecke durch die Alpen laut Angaben der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) bis am 2. Juli gesperrt.

Um 1230: Eröffnung der Teufelsbrücke über die Schöllenenschlucht.

1830: Postkutsche transportiert Passagiere.

1882: Eröffnung des Bahntunnels, mit 15 km der längste der Welt.

1980: Eröffnung des Strassentunnels, mit 17 km der längste der Welt.

2016: geplante Eröffnung des Eisenbahn-Basistunnels, mit 57 km erneut Weltrekord.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft