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Die Schweiz profitiert vom Dialog in Strassburg

Die Schweizer Delegation (v.l.n.r.): Urs Beer, Ständige Schweizer Vertretung in Strassburg, Pearl Pedergnana, Philippe Receveur, Beat Hirs, Dario Ghisletta, Philippe Crevoisier, Politische Direktion EDA. swissinfo.ch

Nicht nur nationale Parlamentarier reisen regelmässig zum Europarat nach Strassburg, sondern auch Vertreter aus Schweizer Gemeinden und Kantonen. Dort treffen sie auf Kollegen aus ganz Europa. Ein Austausch, der wichtig ist, besonders in Zeiten der Krise.

Es ist nicht einfach, sich im Palais de l’Europe, diesem mächtigen Gebäude aus Glas und Aluminium am Stadtrand von Strassburg, zurechtzufinden. Für Beat Hirs, Gemeindepräsident aus Rorschacherberg im Kanton St. Gallen, ist das jedoch kein Problem: Er zückt hier seinen Badge, öffnet dort eine Türe, geht schnellen Schrittes durch einen endlos langen Korridor mit Dutzenden von Büros – und schon stehen wir vor dem Hemicycle, dem Plenarsaal im Hauptgebäude des Europarats.

Es ist Hirs’ viertes Jahr in dieser Institution. Seit Herbst 2012 ist er Vizepräsident der 12-köpfigen Schweizer Delegation im Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats, der zweimal im Jahr zusammentritt. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Bürgerbeteiligung und Autonomie der Gemeinden und Regionen gehören zu den Kernthemen des Kongresses.

Zum Auftakt der Frühjahrsession ist der Saal nur etwa zur Hälfte besetzt. Die gut 200 anwesenden Gemeinde- und Regionalvertreter aus 47 Staaten sind nicht nach Ländern oder Parteien platziert, sondern in alphabetischer Reihenfolge. So sitzt eine Griechin vielleicht neben einem Türken, ein Serbe neben einem Albaner, eine Schweizerin neben einem Ukrainer. Diese Sitzordnung erlaubt oder erzwingt das Gespräch zwischen Leuten aller Länder und politischer Couleur. “Eine gute Sache”, findet Hirs.

Gemeinden und Minoritäten unter Druck

An der 24. Sitzung des Kongresses geht es um die Krise in Europa und die Herausforderungen für die kommunale und regionale Demokratie. Es seien schwierige Zeiten, sagt Hirs: “Minoritäten wie etwa die Roma werden an den Rand gedrückt, ohne Geld wird alles schwieriger. Viele Gemeinden müssen soziale Projekte streichen – das spürt man etwa in der Diskussion mit Kollegen aus Spanien oder Italien.”

In der gegenwärtigen Krise gehe es bei den Diskussionen sehr schnell auch um Werte, sagt Philippe Receveur, Departements-Vorsteher Bau und Umwelt des Kantons Jura und seit Oktober 2012 Präsident der Schweizer Delegation. “Denn Kürzungen betreffen vor allem die Provinzen, die im Zuge von Sparmassnahmen weniger Geld erhalten und besonders zu leiden haben.”

Der Kongress der Gemeinden und Regionen im Europarat wurde 1994 als Teil des Europarats gegründet. Ihm gehören 318 Vollmitglieder und 318 Stellvertreter an, die auf regionaler oder kommunaler Ebene der 47 Mitgliedstaaten in eine Regierung oder ein Parlament gewählt wurden.

Der Kongress setzt sich für die lokale Selbstverwaltung, Demokratie und Autonomie der Gemeinden, Städte und Regionen (Kantone) ein. Er liefert regelmässig Länderberichte zu Demokratie und macht Wahlbeobachtungen.

Die paritätisch zusammengesetzte Schweizer Delegation besteht aus 6 Vertretern und ihren Stellvertretern. Präsidiert wird die Delegation für die Amtsdauer 2012-2015 von Philippe Receveur, Departements-Vorsteher Bau und Umwelt des Kantons Jura, Vizepräsident ist Beat Hirs, Gemeindepräsident von Rorschacherberg (SG).

Lokales Mitspracherecht

Der Stand der Demokratisierung variiert stark in den einzelnen Ländern des Europarats, und die Budgets sind unterschiedlich gross. Im Vergleich zu den meisten europäischen Ländern ist die Schweiz in einer komfortablen Situation. “Dennoch hat man an der Basis viele parallele Probleme, es geht um das lokale politische Leben, um den Bau von Strassen, Schulen, Bibliotheken”, sagt Hirs. “Deshalb ist es wichtig, die lokale Demokratie zu pflegen und starke lokale Strukturen zu schaffen. Das macht die Länder krisenresistenter, robuster und bürgernaher.”

Im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern hätten die Schweizer Gemeinden ein enorm grosses Mitspracherecht, sagt der Jurassier Receveur.”Das zeigt, dass es sehr wohl einen Zusammenhang gibt zwischen bürgernaher Demokratie und dem Wohlstand der Bevölkerung”.

Dieses Mitspracherecht der Bürger führe immer wieder zu grossem Staunen bei Kollegen aus anderen Ländern, erzählt Beat Hirs. “Schon in Deutschland oder Österreich können sie kaum glauben, dass die Schweizer Gemeinden selber über die Höhe ihrer Steuern bestimmen können.”

Das Schweizer System mit seiner Direktdemokratie mag im übrigen Europa zwar auf Bewunderung stossen, manchmal wird es aber auch gerügt, etwa wegen der intransparenten Parteienfinanzierung. “Es wird nicht gerne gesehen, dass die Parteispenden nicht offengelegt werden. Ich verstehe gut, dass das nach aussen und für Kollegen aus anderen Ländern suspekt wirkt”, sagt Hirs.

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Input für politischen Alltag

Nach der Sitzung im Plenum trifft sich die Schweizer Delegation zum Mittagessen. Die Abgeordneten kommen aus dem Tessin, der Romandie sowie der Deutschschweiz und gehören verschiedenen politischen Parteien an. Es herrscht ein fröhlicher Sprachenmix und gute Stimmung, man kennt und respektiert sich, auch wenn man sich nicht immer einig ist. Und auch mit den zyprischen Kollegen am Nebentisch tauscht man ein paar nette Worte – auf Englisch.

Dank der Sprachenkompetenz pflege die Schweizer Delegation gute Beziehungen – insbesondere zu den französisch-, italienisch und deutschsprachigen Länder-Vertretern, tönt es stolz aus der Runde.

Kollegin Pearl Pedergnana ist erst seit einem halben Jahr im Europarat. “Bisher habe ich enorm profitiert”, sagt die Vorsteherin des Bau-Departements der Stadt Winterthur. “In den letzten Jahrzehnten habe ich mit viel Herzblut ‘nur’ Lokalpolitik betrieben. Hier erfahre ich, was die Finanzkrise für die Gemeinden bedeutet und wie gross die Autonomie bei uns ist. Strassburg ermöglicht es mir quasi, mit Aussenblick auf unser System zu schauen.”

Der Europarat wurde 1949 von 10 westeuropäischen Ländern gegründet.

Die Schweiz trat der ältesten aller zwischenstaatlichen Institutionen Europas am 6. Mai 1963 als 17. Mitglied bei und feiert 2013 50 Jahre Mitgliedschaft.

In der Parlamentarischen Versammlung ist sie mit 6 Parlamentariern und ihren Stellvertretern präsent.

Zudem stellt sie einen Richter am Gerichtshof für Menschenrechte.

Die Schweiz hat eine ständige Vertretung im Europarat mit Sitz in Strassburg.

2013 beteiligt sich die Schweiz mit 5,3 Mio. Euro am ordentlichen Budget des Europarats.

Demokratisierung – über Europa hinaus

Von einer “Horizonterweiterung” spricht Dario Ghisletta, der seit 12 Jahren dem Kongress der Gemeinden und Regionen angehört. Der ehemalige Vizebürgermeister von Bellinzona versteht sich nicht nur als Tessiner, sondern in erster Linie als Europäer und Weltbürger. “Es gibt vieles, was man von der anderen Seite der Welt lernen kann. Im Europarat geht es um die Grundprinzipien der Demokratie, dazu muss man alle Ideologien überwinden und interkulturell, interreligiös und überparteilich sein.”

Um Demokratisierung – und dies nicht nur an der europäischen Front – geht es auch Philippe Receveur, dem Präsidenten der Schweizer Delegation. Im Auftrag des Europarats engagiert er sich für eine erweiterte Partnerschaft mit dem südmediterranen Raum. Im Rahmen eines Aktionsplans für mehr Demokratisierung und Dezentralisierung in Marokko und Tunesien begleitet er Regierung und Parlament im Königreich Marokko.

“Der Maghreb gehört zwar nicht zu Europa, aber zu unserer Nachbarschaft. Es liegt auch in unserem Interesse, den Übergang zu demokratischen Gesellschaften in diesen Ländern zu begleiten.”

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