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Zweite Gotthardröhre nimmt weitere, aber nicht letzte Hürde

Nach mehr als 30 Jahren sanierungsbedürftig: Der Gotthard-Strassentunnel. Keystone

Das Parlament sagt Ja zu einer zweiten Autobahn-Röhre am Gotthard. Die Debatte im Nationalrat war lang, emotional und geprägt von lokalen Interessen und dem Gegensatz zwischen Strassen-Lobby, Bürgerlichen und Links-Grün. Das letzte Wort über den Bau der Tunnelröhre wird höchstwahrscheinlich das Volk haben. 

Fakt ist: Der 1980 eröffnete Gotthard-Strassentunnel muss aus baulichen und aus sicherheitstechnischen Gründen ab 2020 saniert werden. Bei den meisten der 220 Schweizer Strassentunnel geschieht dies routinemässig und ohne grosse politischen Diskussionen.

Beim Gotthard ist alles viel komplizierter. Das hat mit der Bedeutung des Tunnels als wesentlicher Baustein der europäischen Nord-Süd-Achsen, seiner Länge von mehr als 17 Kilometern, seiner Rolle als Verkehrsader zwischen deutschsprachiger Schweiz und dem Tessin und mit der schweizerischen Verfassung zu tun.

Dort steht seit der Annahme der Alpenschutz-InitiativeExterner Link im Jahr 1994: “Der alpenquerende Gütertransitverkehr von Grenze zu Grenze erfolgt auf der Schiene.”

Die Spurenfrage

Kosten und Alternativen

Die Sanierung des alten Gotthard-Strassentunnels und der Neubau einer zweiten Röhre würde laut Schätzungen des Bundesrats 2,8 Mrd. Fr. kosten.

Bei einer Sanierung ohne Neubau würden Kosten von 650 bis 890 Mio. Fr. entstehen.

Um den Verkehr während der Schliessung des Tunnels zu bewältigen, wären eine ganze Serie von Begleitmassnahmen nötig, darunter der Verlad von Autos und Lastwagen auf die Schiene. Zusammen mit den Investitionen, die für eine Verlängerung der Sommer-Öffnungszeiten der Gotthard-Passstrasse nötig sind, werden die Gesamtkosten einer Sanierung mit Begleitmassnahmen auf 1,2 bis 2 Mrd. Fr. geschätzt.

(Quelle: Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation)

Der Reihe nach: Technisch kann der Tunnel ohne Komplettsperrung nicht saniert werden. Der Gotthard-Pass kann den Verkehr in keiner Weise verkraften und muss im Winter gesperrt werden. Deshalb hat sich der Bundesrat für den Bau einer zweiten RöhreExterner Link entschieden. Nach deren Bau soll die bestehende Röhre saniert werden. Im Endausbau werden die beiden zweispurigen Röhren nur je einspurig befahren werden. Die zweite Spur dient als Notfallspur für Rettungsfahrzeuge oder als Ersatz im Fall einer Röhrenschliessung.

Das sei ein “Steilpass für die Verdoppelung der Kapazität”, sagte die Berner Nationalrätin der Grünen Regula Rytz. Denn es werde dereinst ein kleiner Schritt sein, beide Röhren zweispurig frei zu geben. Und das stehe im Widerspruch zum Alpenschutz in der Verfassung.

Verkehrsministerin Doris Leuthard konterte, dass es so oder so einer Verfassungsänderung, also einer Volksinitiative bedürfe, um beide Spuren beidseitig zu befahren und dass dazu eine Gesetzesänderung nicht reiche. Der Bundesrat wolle zudem das Betriebsregime mit je einer Fahrspur gesetzlich verankern.

Vor allem grüne und linke Parlamentarierinnen und Parlamentarier fürchteten eine Aufweichung des Alpenschutzes, sprachen sich gegen eine zweite Röhre und stattdessen für temporäre Verlagerungslösungen für Last- und Personenwagen aus. “Bei kilometerlangen Staus vor den Tunnels wird der Druck enorm steigen”, sagte der Berner Grünliberale Jürg Grossen. Die Schweiz werde dem Druck aus den EU-Ländern nicht standhalten können und die Tunnels vollständig öffnen müssen, doppelte die Thurgauer Sozialdemokratin Edith Graf-Litscher nach.

Sonnenstube nicht isolieren

Die Vertreter der Transportlobby, die Mehrheit der Tessiner und der Bürgerlichen plädierten für den Bau einer zweiten Röhre. Das Koste zwar mehr, sei jedoch mit Blick auf eine nächste, in 30 bis 40 Jahren nötige Sanierung, sinnvoller und nachhaltiger als ein provisorischer Autoverlad.

“Der Gegenverkehr ist ein nicht zu unterschätzendes Gefahrenpotential”, sagte der rechtskonservative Max Binder. “Unsere Sonnenstube während drei Jahren zu isolieren, würde Wirtschaft und Tourismus empfindlich schädigen”, sagte der Basler Christdemokrat Markus Lehmann mit Blick auf die Variante ohne zweite Röhre.

Sein Tessiner Parteikollege Marco Romano bezeichnete den Bau als “Akt der Solidarität” und fügte hinzu: “Es gibt keine andere Region mit 350’000 Einwohnern, die nicht mit einer Autobahn mit dem restlichen Land verbunden ist.” Die Gegner seien “gänzlich ideologisch gesteuert”.

Verschiedene Töpfe

Bereits zweimal hat das Schweizer Volk Nein gesagt zum Bau einer 2. Röhre am Gotthard. 1994 mit dem Ja zur Alpenschutz-Initiative und 2004 mit dem Nein zum Avanti-Projekt.

Dass es nun zu einem Referendum und zu einer Volksabstimmung kommt, gilt als sicher. Voraussichtlich am 7. Oktober wird der Gotthard-Beschluss im Bundesblatt veröffentlicht. Gleichentags soll der Startschuss für die Unterschriftensammlung für das Referendum fallen.

Die Tunnelgegner haben dafür den Verein “Nein zur zweiten Gotthard-Röhre” gegründet, dem über 30 Parteien und Organisationen – darunter die SP, die Grünen, die Grünliberalen, der Verkehrsclub der Schweiz (VCS), der WWF, Greenpeace, Pro Natura und der Verein Alpen-Initiative angehören.

Das Sammeln der benötigten 50’000 Unterschriften dürfte kein Problem darstellen, denn allein der VCS hat mehr als 100’000 Mitglieder, die Alpen-Initiative rund 50’000.

Neben gesellschaftlichen Haltungen und Anliegen spielten in der  Debatte auch regionale Interessen eine Rolle. Genauso wie das Tessin touristische und wirtschaftliche Nachteile fürchtet, falls die zweite Röhre nicht gebaut werden sollte, fürchten andere Regionen um dadurch fehlende Mittel für ihre eigenen Projekte.

“Was am Gotthard verlocht wird, fehlt andernorts. Dort, wo der Verkehrsdruck heute schon immens ist. Dort, wo die Leute tagtäglich im Verkehrschaos versinken. Das ist in den Agglomerationen und den Städten und nicht am Gotthard”, sagte die Sozialdemokratin Evi Allemann.

Bei der Sanierung des Gotthard-Strassentunnels gehe es “um Substanzerhalt und das läuft über das Budget, genau wie andere Tunnelsanierungen”, korrigierte Verkehrsministerin Doris Leuthard. Die Beseitigung von Engpässen würden hingegen aus dem Infrastrukturfonds bezahlt: “Es gibt keine Mittelkonkurrenz, weil es verschieden Töpfe sind.”

Referendum angekündet

Der Nationalrat stimmte, wie vor einigen Monaten bereits der Ständerat, dem Bau der zweiten Röhre mit 109 zu 74 Stimmen zu. Damit hat das Projekt zwar eine wichtige, aber nicht die entscheidende Hürde genommen. Denn seine Gegner haben bereits das Referendum angekündigt. Zweifelsohne werden sie die nötigen 50’000 Unterschriften innert 100 Tagen zusammenbringen. Das letzte Wort wird also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Volk haben.

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