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“Demokratie ist keine exakte Wissenschaft, muss aber funktionieren”

Carles Puigdemont
Carles Puigdemont während der Konferenz über die katalanische Identität am Endorfine Festival in Lugano. Keystone / Elia Bianchi

Die schweizerische Demokratie, in welcher der Wille der Bürgerinnen und Bürger über allem steht, könnte als Vorbild für die Lösung vieler Herausforderungen in Europa dienen, sagt Carles Puigdemont. Der ehemalige Präsident der Generalitat de Catalunya sprach am Endorfine Festival in Lugano mit swissinfo.ch über seinen Kampf für die Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien.

swissinfo.ch: Sie sind bereits zum zweiten Mal innert kurzer Zeit in die Schweiz gereist. Hier leben auch zwei Politikerinnen, die das Referendum und die Unabhängigkeitserklärung unterstützt haben, im Exil: Marta Rovira und Anna Gabriel. Kann man sagen, dass die Schweiz ein Referenzmodell für die katalanische Unabhängigkeitsbewegung ist?

Carles Puigdemont: Ja, und ich behaupte sogar: Wenn die Europäische Union wie eine grosse Schweiz wäre, wäre das ein hervorragender Weg, um die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen.

Die Schweiz ist vielleicht nicht perfekt, aber sie funktioniert und kann den Rest der Welt lehren, wie man mit Unterschieden und Andersartigkeit erfolgreich umgeht, und zwar mit der Würde, die jede und jeder verdient. Die Schweiz respektiert Identitäten, Sprachen und Menschen. Ein “Konföderalismus”, der ein hervorragender Weg zur Konfliktlösung ist.

swissinfo.ch: Auch in der Vergangenheit haben Sie die Schweizer Demokratie gelobt, “weil Sie Ihren Bürgerinnen und Bürgern das Wort erteilt”.

C.P.: Die Tatsache, ein Machtsystem zu begründen, in dem zuvorderst der Bürgerwille zählt, ist ein gutes System – mit all seinen Unvollkommenheiten und Risiken. Doch die Demokratie ist keine exakte Wissenschaft oder perfekte Maschine, aber sie muss funktionieren. Der springende Punkt ist der Volkswille. Und die Schweizer Demokratie ist ein gut funktionierendes System.

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Vor einem Jahr war Carles Puigdemont zu Besuch im Kanton Jura (SRF Tagesschau vom 9.9.2018)

swissinfo.ch: Sie kennen die Jurafrage und den Prozess, der zur politischen Lösung dieses Kantons geführt hat, bestens. Ausschlaggebend waren unter anderem die direkte Demokratie und eine Reihe von “bottom-up” Volksabstimmungen: Die Lösungen wurden zunächst auf kantonaler, dann auf regionaler und schliesslich auf nationaler Ebene legitimiert. Würde dieser Ansatz auch in Spanien funktionieren?

C.P.: Die Unabhängigkeit ist für uns nicht das einzige Ziel, aber sie ist sicherlich das höchste. Wenn die anderen Lösungen nicht funktionieren, hat man das Recht, unabhängig zu sein. Seit 40 Jahren arbeiten wir mit allen spanischen Regierungen, ob links oder rechts, zusammen, um die spanische Demokratie zu verbessern.

Doch wir konnten unser Autonomiestatut von 1978 nicht erneuern, trotz der breiten Unterstützung bei der Abstimmung im Parlament Kataloniens, im Madrider Parlament und eines Volksreferendums, in dem 72% der katalanischen Bürgerinnen und Bürger Ja zum neuen Gesetz sagten.

swissinfo.ch: Für die Lösung eines solchen Konflikts ist es wichtig, bereit zu sein, einen Schritt von den eigenen Ansprüchen zurückzutreten. Ist Katalonien bereit, im Dialog mit der Zentralregierung in Madrid Zugeständnisse zu machen?

C.P.: Wir haben schon viele Wege ausprobiert, aber wir standen immer vor einem kategorischen Nein. Was also sollte ein Volk angesichts dieses immer negativen Verhaltens tun? Aufgeben?

Wir haben versucht, unsere Rechte zu verteidigen, indem wir das tun, was alle Völker der Welt tun, die für ihre Würde und ihre Bestätigung kämpfen. Und wir haben dies mit demokratischen und gewaltfreien Mitteln getan.

“Wir haben versucht, unsere Rechte zu verteidigen, indem wir das tun, was alle Völker der Welt tun, die für ihre Würde und ihre Bestätigung kämpfen. Und wir haben dies mit demokratischen und gewaltfreien Mitteln getan.” 

swissinfo.ch: Kommen wir zurück auf das Thema Europa. Jemand verglich den Prozess des Ausstiegs Grossbritanniens aus Europa mit dem Ausstieg Kataloniens aus Spanien. Gibt es da Gemeinsamkeiten?

C.P.: Ich bin sehr besorgt über die Folgen des Brexits. Nicht so sehr für Grossbritannien, sondern für Europa. Nicht nur aus wirtschaftlicher, sondern auch aus demokratischer Sicht, denn wir verlieren eine der grössten Demokratien der Welt, auch wenn sie nicht perfekt ist.

Wir wollen in der EU bleiben und Teil davon sein, weil ich mir Katalonien ausserhalb Europas nicht vorstellen kann. Wir waren schon immer ein Teil Europas, unsere Kultur ist europäisch, und wir wollen zur Konsolidierung eines geeinteren Europas beitragen, das die Vielfalt anerkennt.

swissinfo.ch: Sie wurden Mitglied des Europäischen Parlaments, aber Ihre Wahl wurde noch nicht bestätigt, und Ihr Sitz, wie der von zwei anderen katalonischen unabhängigen Abgeordneten, bleibt noch leer.

C.P.: Ich wurde vom Volk gewählt und habe das Recht, Mitglied des Europäischen Parlaments zu sein. Die Tatsache, dass man nach Madrid gehen muss, um auf die Verfassung zu schwören, um voll anerkannter Abgeordneter zu werden, ist im europäischen Recht gar nicht vorgesehen.

Der Fall liegt jetzt in den Händen des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg, der nicht weiss, wann er sich äussern wird. Aber wir hoffen, dass er dies nicht nur für uns, sondern auch für Europa und die Demokratie tun wird. Ich glaube an ein Europa, in dem der Bürgerwille wichtiger ist als alles andere.

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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