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Eins über Stärke der Schweiz, uneins über Strategie

Hans Fehr (links) und Alec von Graffenried im Streitgespräch im swissinfo-Studio an der Giacomettistrasse 1 in Bern. swissinfo.ch

Was soll die Schweiz angesichts der Eurokrise tun? Aus einer Position der Stärke heraus weitere Verträge abschliessen, sagt Alec von Graffenried. Weiter draussen bleiben und auf die eigenen Stärken setzen, sagt Hans Fehr.

Beide sitzen sie im Nationalrat, von Graffenried für die Grünen, Fehr für die Schweizerische Volkspartei (SVP).

In der Frage des EU-Beitritts sind sie aber diametral anderer Meinung. Der Berner von Graffenried ist leitendes Mitglied der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs) und befürwortet die Mitgliedschaft in Brüssel.

Der Zürcher Fehr als Geschäftsführer der Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (Auns) plädiert dagegen vehement für einen Alleingang der Schweiz.

swissinfo.ch: Österreichs Bundeskanzler forderte die Schweiz indirekt auf, sich am Rettungsschirm für den Euro zu beteiligen, Brüssel hat die Forderung inzwischen abgelehnt. Ist die Schweiz mit ihrer Beteiligung am Internationalen Währungsfonds (IWF) und den Euro-Stützkäufen durch die Nationalbank solidarisch genug?

Alec von Graffenried: Es sind die richtigen Massnahmen zur richtigen Zeit. Aber man sollte ja auch noch etwas in Reserve haben.

Hans Fehr: Die Schweiz tut mit ihren Euro-Aufkäufen in Milliardenhöhe mehr als genug. Wir sind auch – leider – Mitglied des IWF, wo wir mit rund sechs Milliarden Franken partizipieren.
Wir sind auch solidarisch mit Europa, wenn wir beispielsweise für über 30 Mrd. Franken die Neat bauen, eine neue Eisenbahntransversale durch die Alpen.

swissinfo.ch: Die Krise stellt die EU-interne Solidarität auf einen harten Prüfstand. Deutschland zögerte lange, Griechenland zu helfen, der “reichere” Norden muss dem “ärmeren” Süden der EU beistehen. Wie steht es um diese viel beschworene Solidarität innerhalb der EU?

A.v.G.: Historisch gesehen gibt es diese Solidarität schon lange. Griechenland, Spanien und Portugal sind heute unsere beliebten Feriendestinationen.

Aber wenn wir 40 Jahre zurück blenden, waren diese Länder Militärdiktaturen, welche die Menschenrechte nicht respektierten. Es ist das grosse Verdienst der EU und des vereinigten Europa, dass die Menschen dort befreit wurden und heute in gesicherten Demokratien leben können. Sie können zudem als vollwertige Mitglieder in der europäischen Staatengemeinschaft mitwirken.

1970 hätten nur wenige Menschen auf eine solche Perspektive für 2010 gewettet. Diese positive Entwicklung ist auch der historischen Solidarität des europäischen Nordens mit dem Süden zu verdanken.

H.F.: Ich bitte Herrn von Graffenried, die historischen Tatsachen nicht schön zu malen. Ich bezweifle, dass die EU das Friedensinstitut für Europa gewesen sein soll.

Vielmehr hatten die Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem wir von den ‘bösen” Amerikanern befreit wurden, einfach genug. Danach haben sich nach und nach Demokratien gebildet, und es gehört zum Wesen der Demokratie, dass sie untereinander keine Kriege führen.

In der heutigen Krise stellt man fest, dass die EU eine schlechte Konstruktion ist, weil sie völlig unterschiedliche Volkswirtschaften unter einen Deckel zwängt.

Die Währungsunion war nicht das Resultat ökonomischer Überlegungen, sondern ein rein politischer Entscheid. Die Politik wurde über den Markt gestellt, und das holt nun die Realität ein.
Wir müssen in der Schweiz eine Nischenpolitik betreiben, mit tieferen Steuern, weniger Bürokratie, mehr Qualität.

A.v.G.: Natürlich ist die Krise eine grosse Belastungsprobe, in der es zu grossen Spannungen kommt. Dafür gibt es auch sehr berechtigte Gründe. Man kann dem System vorwerfen, dass es unvollkommen war, wenn man an die Auswüchse denkt.

Mich stört auch, dass es den Griechen in ihrer Krise eigentlich sehr gut geht. Es gibt offensichtlich eine riesige Schattenwirtschaft, von der sehr viele Griechen profitiert haben. In einer solchen Phase Solidarität einzufordern, ist eine Überstrapazierung des Systems. Korrekturen sind zweifellos nötig.

H.F.: Die EU handelt zudem widerrechtlich, in dem sie ihre eigenen Grundsätze verletzt. Die EU-Länder dürften keine Milliarden ausschütten, um den Haushalt eines Einzellandes zu sanieren.

swissinfo.ch: Die Eurozone bedeutet, dass die Notenbanken der Euro-Länder keine eigene Währungspolitik mehr betreiben können. Dies bezeichnet jetzt auch Nobelpreisträger Paul Krugman als grosse Gefahr für die EU-Länder. Da fährt die Schweiz doch viel besser ausserhalb?

H.F.: Das ist so. Ich stelle fest, dass die EU-Beitrittsbefürworter fast gebetsmühlenartig betonen, dass erstens jede Krise die EU stärker gemacht habe und dass zweitens das System funktioniere, weil alle solidarisch handelten.

Was aber heute fehlt, ist die Autonomie Griechenlands, Spaniens und Portugal zum Betreiben einer eigenen Währungspolitik. Griechenland müsste jetzt dringend abwerten, was aber wegen des starren Systems nicht möglich ist.

Grossbritannien und die Schweiz haben eine klügere Politik gewählt. Wir können die Konjunktur durch eine umsichtige Nationalbank beeinflussen.

A.v.G.: Es trifft zu, dass früher in einer solchen Situation die griechische Drachme abgewertet worden wäre. Mit dem Euro aber haben die Spielregeln geändert, auch für Griechenland.

Das Resultat dieser Krise wird die Erkenntnis sein, dass die Integration unvollkommen war. Und dass es eine gestärkte Zentrale der EU braucht, um die wirtschaftspolitischen Massnahmen zu treffen, die zum Ausgleich solcher Disparitäten nötig sind.

Eine Alternative zum Vorantreiben der Integration gibt es nicht, will man den Euro beibehalten. Von ihm Abstand zu nehmen, ist heute kaum mehr möglich.

H.F.: Das System weiterentwickeln tönt wunderschön. Das bedeutet aber immer mehr Regeln und Vorschriften. Man zerstört auch Vertrauen, indem man auf so genannte Steuersünder losgeht.

Dieses System ist nicht zukunftsträchtig. Wir müssten ein System haben, das auf Vertrauen, Freiheit und Selbstdeklaration baut.

swissinfo.ch: Die Schweiz hat die Finanzkrise wirtschaftlich besser überstanden als die europäischen Nachbarn. Hat die Schweiz gut daran getan, dem EWR und der EU nicht beizutreten?

A.v.G.: Mit dem Abschluss der Bilateralen Abkommen hat sich die Situation für die Schweiz deutlich verbessert. In den 1990er-Jahren war die Schweizer Wirtschaft aber auch nicht nur auf Rosen gebettet.

Die grosse Frage ist, wie wir uns jetzt in dieser Eurokrise verhalten. Wirtschaftskrisen sind nicht dazu da, sich gar mit Häme darüber auszulassen, wenn unsere Nachbarn in Schwierigkeiten geraten.
Krisen sind vielmehr Anlass zu grosser Sorge, umso mehr, wenn sie direkt vor der Haustüre oder gar in unserem Haus selbst abspielen.

Wir sollten zu einer Verbesserung des Systems beitragen. Euro- wie Wirtschaftskrise haben ihre Ursache darin, dass wir über unsere Verhältnisse gelebt haben, die Schweiz eingeschlossen.

Wir handeln unverantwortlich, weil wir den künftigen Generationen grosse Schulden anhäufen. Wir müssen unser Verhalten tiefgreifend ändern, nicht nur der Umwelt gegenüber, sondern auch bezüglich der Wirtschaft. Und das jetzt, während der Krise. So können wir künftigen Generationen ein freiheitliches Leben ermöglichen.

H.F.: Wir müssen unsere Hausaufgaben machen, aber das hat momentan nicht sehr viel mit der EU zu tun. Die Schweiz ist in einer sehr guten Position, was Löhne, Sozialleistungen und Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskraft, Frankenstärke usw. betrifft.

Aber wir müssen schauen, dass wir unsere Freiheit, Volksrechte, Volkssouveränität und Unabhängigkeit bewahren. Diese Grundfesten der direkt-demokratischen Schweiz sind unser Erfolgsrezept.

Albert Einstein sagte vor 100 Jahren: “Ausserdem habe ich Achtung vor der Schweiz als Staat, weil sie es fertig gebracht hat, in Zeiten allgemeiner Hysterie stets leidlich vernünftige Regierungen zu haben und äusserem Druck erfolgreich zu widerstehen.”

Gleichzeitig sollen wir sehr weltoffen sein. Nicht nur gegenüber Europa, sondern auch China, Japan, Indien, wo die grossen Absatzmärkte liegen. Wir sollten nicht nur auf Brüssel schauen, sondern auf die ganze Welt.

Olivier Pauchard und Renat Künzi, swissinfo.ch

Der 47-jährige Jurist Alec von Graffenried war von 2000 bis 2007 Regierungsstatthalter des Amtsbezirks Bern.

Bei den Schweizer Parlamentswahlen 2007 wurde er für die Grünen in den Nationalrat gewählt, wo er Mitglied der Kommission für Rechtsfragen ist.

Von Graffenried ist Präsident der Berner Sektion der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs).

Der 63-jährige Zürcher Hans Fehr ist ausgebildeter Lehrer und Mitglied der Schweizerischen Volkspartei (SVP). Er sass 1991 bis 1996 im Zürcher Kantonsparlament.

1995 wechselte er als Nationalrat ins Bundeshaus.

Seit 1998 ist er Geschäftsführer der rechtskonvervativen Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (Auns).

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