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Besucheransturm im Parlament

Von der Tribüne aus verfolgen Besuchende die Debatten oft aufmerksamer als viele Abgeordnete. parlament.ch

Die Sessionen der eidgenössischen Räte sind ein Publikumsmagnet. Der Ansturm ist so gross, dass sich Gruppen mindestens sechs Monate im Voraus anmelden müssen. Ein Rundgang mit einer Gruppe von Lehrlingen.

Seit seiner Wiedereröffnung für das Publikum nach den umfassenden Renovationsarbeiten von 2006 bis 2008 erlebt das Bundeshaus in Bern einen regelrechten Besucheransturm. Letztes Jahr zählte man rund 95 000 Besucherinnen und Besucher.

Obwohl während des ganzen Jahres Besuche für Gruppen und Einzelpersonen möglich sind, ist der Andrang während der Session am grössten. Nach Angaben der Parlamentsdienste besuchen während dieser Zeit pro Tag durchschnittlich 19 Gruppen das Bundeshaus. Ausserhalb der Session sind es lediglich vier.

Eine Gruppe von 33 Lehrlingen und ihre Begleiter stellen sich beim Besuchereingang in die Reihe. Die jungen Leute kommen aus dem Tessin und der Region Moesano (Kanton Graubünden). Sie sind alle im dritten Lehrjahr ihrer Ausbildung als kaufmännische Angestellte in den Kantons- oder Gemeindeverwaltungen. Catherine Ochsenbein, welche die Führung macht, nimmt die Gruppe in Empfang.

Symbol helvetischer Vielfalt

Erste Etappe des Rundgangs ist die imposante Kuppelhalle des Parlamentsgebäudes, ausgestattet mit Symbolen aus Geschichte und Kultur der Eidgenossenschaft. Die Kuppelhalle ist ein eigentliches nationales Denkmal für die Schweiz mit ihren vier Kulturen.

Der Aufgang vom Haupteingang führt zur mächtigen Figurengruppe “Die drei Eidgenossen”, die den Rütlischwur verkörpert. Ochsenbein erzählt mit viel Enthusiasmus von Mythen, Geschichte und Kunst. Sie vermag das Interesse der Besucher zu wecken, die sich aktiv beteiligen, Fragen stellen und auch selber beantworten.

“Sie war richtig professionell”, so das Urteil eines Lehrlings am Ende der Führung. Auch Gerry Giudici, Lehrlingsverantwortlicher der kantonalen Verwaltung Tessin und Nadia Fiorini, Verantwortliche für die zwischenbetrieblichen Kurse in der öffentlichen Verwaltung, loben die äusserst kompetent durchgeführte und interessante Führung.

In der Schaltzentrale der Macht

Nach der historisch-kulturellen Einführung werden die Besucher auf die Tribüne des Ständeratssaals (kleine Parlamentskammer) geleitet. Die Ständeräte haben die Sitzung zwar um 13 Uhr beendet, doch einige sitzen immer noch im Saal und arbeiten an ihren Pulten.

Catherine Ochsenbein spricht zuerst über Architektur und Kunst im Saal und gibt dann den Besuchern eine Einführung in die institutionellen Prozesse. Der Weg des Gesetzes im Parlament, die Beziehung zwischen den beiden Kammern und die Beziehung der Kammern und der Regierung: Gesprächsstoff gibt es genug, die Jugendlichen machen eifrig mit.

Von der Theorie geht es nun zur Praxis: eine Stunde lang verfolgen die Besucher von der Zuschauertribüne aus die Arbeit im Nationalrat. Es ist nicht einfach, den Debatten des Nationalrates zu folgen, trotzdem bleiben die Lehrlinge aufmerksam. Ein Jugendlicher bemerkt sogar: “Die Simultanübersetzung vom Deutschen ins Italienische ist nicht immer vollständig und exakt”.

Auf Du und Du mit den Parlamentariern

Das Herzstück der Führung ist aber die Begegnung mit einigen Ratsmitgliedern aus der italienischsprachigen Schweiz. Sie erklären den Jugendlichen ihre Arbeit und fordern sie auf, am politischen Leben der Schweiz teilzunehmen.

“Eines der grossen Probleme des Landes ist die grosse Abwesenheit der Jugendlichen bei wichtigen politischen Entscheidungen”, stellt Fulvio Pelli von der Freisinnig-Demokratischen Partei fest und findet, “dass eine Demokratie der Alten keine gute Demokratie ist”.

“Das Parlament sollte der Spiegel der Gesellschaft sein. Deshalb ist es wichtig, dass alle Altersgruppen und beide Geschlechter vertreten sind”, fügt Marina Carobbio von der Sozialdemokratischen Partei bei und appelliert an die politische Teilnahme der Frauen.

Nach allgemeinen Erklärungen folgt eine Diskussion über Themen aus der laufenden Session. “Heute spreche ich über Joints”, beginnt der Arzt Ignazio Cassis und erntet einen erstaunten Blick von Parteikollege Pelli und ein Schmunzeln seitens der Lehrlinge.

Was vorerst als Provokation gedacht war, mündet in einen ernsthaften Meinungsaustausch zwischen Parlamentariern und Lehrlingen über die Revision des Betäubungsmittelgesetzes. Nationalrat Cassis ist offensichtlich erstaunt, als ihn ein Jugendlicher um eine gesetzgeberische Aufklärung zum therapeutischen Gebrauch von Cannabis bittet.

Eine rege Diskussion entwickelt sich, und beim Abschied sind die Lehrlinge begeistert. All jene, die wir angesprochen haben, empfehlen den Besuch im Bundeshaus mit Nachdruck.

Es werden auch Vorschläge gemacht: Luca und Alan fänden es besser, wenn man weniger lang auf den Tribünen wäre, dafür etwas ausgiebiger mit den Ratsmitgliedern sprechen könnte. Giorgia würde es begrüssen, auch Parlamentarier aus den andern Sprachregionen zu treffen, so könnte der Meinungsaustausch noch vertieft werden und man würde noch mehr Leute kennenlernen.

Bestandteil der direkten Demokratie

Neue Ideen sind lanciert. Auch wenn nicht alles realisiert werden kann, sind sie doch ein Zeichen für das Interesse der Jugendlichen, das durch diesen Besuch geweckt wurde. Alle beteiligten Ratsmitglieder bekräftigten ihren Willen, diese Kontakte zu weiter zu pflegen.

Solche Treffen seien tatsächlich “ein fundamentaler Bestandteil der direkten Demokratie”, unterstreicht die Bündner Sozialdemokratin Silva Semadeni. Auch die Parlamentarier profitierten davon, denn sie würden so die Sorgen und Erwartungen der Bevölkerung besser verstehen.

Die Parlamentsdienste führen keine Statistik über Herkunft und Alter der Besuchenden, doch aus eigener Erfahrung weiss Ochsenbein, dass die Zusammensetzung der Besuchergruppen mehr oder weniger dem Querschnitt der Schweizer Bevölkerung entspricht.

Es gibt auch Touristen, die das Bundeshaus besuchen, doch eher ausserhalb der Session. Sie interessieren sich mehr für die architektonischen, geschichtlichen und kulturellen Aspekte. Es sei nicht unüblich, dass solche Besucher während einer Session wiederkommen oder auch umgekehrt, sagt Catherine Ochsenbein zum Schluss.

Das Bundeshaus ist der Sitz von Regierung und Parlament der schweizerischen Eidgenossenschaft.

Der älteste Teil des Gebäudekomplexes, das heutige Bundeshaus-West, wurde von 1852-57 vom Architekten Friedrich Studer gebaut.

Der Bau erwies sich schon bald als zu klein, so dass nach den Plänen von Hans Auer der Westflügel (1888-92), als Spiegelbild des Ostflügels, und das Parlamentsgebäude (1894-1902) errichtet wurden. Letzteres wurde am 1. April 1902 eingeweiht und zwischen 2006- 2008 erstmals komplett renoviert.

Das Parlamentsgebäude ist ein repräsentativer Bau mit einem Portikus an der Nordfassade und der Kuppelhalle mit dem Treppenaufgang. Darüber thront die Bundeshauskuppel, die man schon von weitem sieht. Durch die reiche künstlerische Ausstattung ist das Gebäude zu einem Nationaldenkmal geworden.

Für die Ausführung der Dekorationsarbeiten (Skulpturen, Wand- und Deckenmalereien, Glasfenster, Mosaike, angewandte Kunst) wurden 38 verschiedene Künstler engagiert, die aus allen Regionen der Schweiz stammten. Das Bildprogramm umfasst die drei Themen Schweizer Geschichte, verfassungsmässige Grundlage des Bundes und kulturelle und materielle Vielfalt der Schweiz in ihrer politischen, geografischen und berufsständischen Gliederung.

Durch die Architektur und die Dekoration wollte man ein repräsentatives Bild der Schweiz abgeben. Für den Bau des Gebäudes verwendete man gewerbliche Erzeugnisse und eine Vielzahl von verschiedenen Materialien, die zu 95% aus der Schweiz stammten.

(Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz HLS)

(Übertragen aus dem Italienischen: Christine Fuhrer)

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