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Asylbewerber – ein Blick aus dem Inneren

Keystone

Am Empfangs- und Verfahrenszentrum für Asylbewerber in Chiasso stehen täglich Dutzende von Personen vor der Tür, hauptsächlich Flüchtlinge aus Afrika. Was bedeutet die Arbeit mit Asylbewerbern für die Mitarbeitenden des Empfangszentrums? Ein Augenschein.

“In den letzten Jahren hat sich die Art der Asylsuchenden radikal geändert. Heute handelt es sich nicht mehr um politische Flüchtlinge im engeren Sinn. Die meisten kommen nach Europa, um Arbeit zu suchen und ihre Lebensbedingungen zu verbessern.”

Dies erzählt Margherita (Name von der Redaktion geändert), die seit neun Jahren im Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ) von Chiasso arbeitet.

“Das hat auch unsere Arbeit radikal verändert: Früher konnten wir Personen Schutz bieten, die etwa in einem diktatorischen Regime verfolgt wurden. Heute stehen wir fast hilflos diesem Strom von Arbeitsmigranten gegenüber.”

In all diesen Jahren hat Margherita Tausende von Asylsuchenden gesehen. Allein in den ersten acht Monaten dieses Jahres durchliefen 3147 Personen das EVZ von Chiasso. Die meisten stammten aus Nigeria (777), Tunesien (688) und Marokko (243).

Die Sachbearbeiterin hat vieler dieser Asylsuchenden persönlich kennengelernt. Denn sie musste herausfinden, wie und warum sie in die Schweiz kamen. Margherita kümmert sich um die ersten Befragungen. Es handelt sich um Gespräche, in denen die Beamten des Bundesamts für Migration ausloten, ob auf einen Asylantrag überhaupt eingetreten werden kann.

Wir treffen Margherita Anfang Oktober gemeinsam mit ihren Kollegen Pablo und Gabriele (Namen ebenfalls geändert). Alle wollen anonym bleiben (“wir wollen nicht in der Kritik landen”), denn sie wollen frei über die Migrationsproblematik und ihren Alltag sprechen können.

Wenn das Wasser bis zum Hals steht

Das direkt an der Grenze zu Italien gelegene EVZ in Chiasso muss seit Jahren mit recht bescheidenen Mitteln einen Ansturm von Asylsuchenden bewältigen. Die vorhandenen 184 Betten sind immer belegt, und die Mitarbeitenden arbeiten ständig am Anschlag.

“Wir führen täglich bis zu vier Anhörungen durch; dabei steht uns häufig das Wasser bis zum Hals”, sagt Gabriele. “Manchmal ist der Stress auszuhalten, doch dann gibt es wieder Momente, in denen die Angriffe der Medien und der Druck von Seiten der Politik fast nicht zu ertragen sind.” – “Man braucht ein starkes Rückgrat, um diese Arbeit zu machen”, fügt Margherita an.

Auch an diesem Montag geht es alles anderes als ruhig zu. Übers Wochenende sind 60 Migranten illegal über die Grenze eingereist. Nun muss für sie möglichst rasch eine Bleibe gefunden werden.

Viele Wirtschaftsflüchtlinge

Seit sich 2011 mit dem arabischen Frühling neue Migrationsrouten geöffnet haben, ist die Anzahl der Asylgesuche in der Schweiz massiv angestiegen. Es wird geschätzt, dass dieses Jahr 30’000 Gesuche gestellt werden, fast doppelt so viele wie vor zwei Jahren (15’567). In Bezug auf die Asylgesuche im Verhältnis zur Einwohnerzahl steht die Schweiz nach Malta, Luxemburg und Schweden an vierter Stelle.

Die meisten Gesuche in der Schweiz werden allerdings abgelehnt. 2011 fanden 80 Prozent der Gesuchsteller kein Gehör. Denn laut Gesetz sind Armut und Arbeitslosigkeit kein Grund für eine Anerkennung. “Das könne zur Annahme verleiten, dass die Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen keine grosse Rolle spielt. Doch das Gegenteil ist wahr: Fehlende Arbeitsplätze stellen eine Tragödie dar, und Europa müsste daher seine Kriterien in Bezug auf die Migration überdenken”, meint Pablo.

Obwohl das Asylgesetz in den letzten Jahren wiederholt verschärft wurde, steht die Schweiz dieser neuen Kategorie von Migranten etwas hilflos gegenüber. “Im Vergleich mit Flüchtlingen, denen die Staaten einen gewissen Schutz garantieren, tauchen diese Migranten häufig in die Illegalität ab und pendeln zwischen verschiedenen Ländern hin und her. Wenn sie an der Grenze angehalten werden, bleibt ihnen fast nichts anderes übrig, als Asyl zu beantragen. Obwohl dies eigentlich der falsche Weg ist.”

Steigender Frust

Eigentlich sollte das EVZ von Chiasso, genau wie die vier anderen Zentren dieser Art in der Schweiz, alle Phasen des Asylverfahrens innert 90 Tagen erledigen: Von der medizinischen Kontrolle über die vertiefte Anhörung bis zum Asylentscheid.

Die Realität sieht aber anders aus: Im Schnitt musste ein Asylsuchender im ersten Halbjahr 2012 fast sechs Monate (176 Tage) auf einen Asylentscheid warten. Die Asylsuchenden werden in der Zwischenzeit auf die Kantone verteilt.

Ein EVZ ist somit eine Art “Verteilstelle” geworden. “Bei uns kommen die Asylsuchenden mit ihrem ganzen Ballast an Geschichten vorbei, doch wir können die Einzelfälle gar nicht vertiefen. Alles hängt in der Luft”, so Margherita.

Seit Jahresbeginn wurden zudem 80 Prozent der Fälle in Bern entschieden, wo das Bundesamt für Migration seinen Sitz hat. “Einerseits entlastet es uns natürlich, weil wir nicht für das künftige Schicksal eines Menschen verantwortlich sind; andererseits nimmt diese Entwicklung unserer Arbeit den Sinn. Und das ist doch bedauerlich.”

Lüge und Wahrheit

Die Angestellten im EVZ beschränken sich in der Regel auf die erste Befragung: Name, Nachname, Geburtsort, Fluchtmotiv, etc. Es handelt sich um einen langen Katalog an Fragen, der weder den Asylbewerbern noch den Sachbearbeitern irgendwelchen Spielraum lässt. Das Formular muss ausgefüllt, die Informationen akribisch zusammengetragen werden.

Diese Anhörung ist nicht mit einem echten Gespräch zu vergleichen. Häufig vermischen sich Lüge und Wahrheit. “Ich verstehe die Skepsis vieler Asylsuchender. Wenn sie in ihren Heimatländern von der Behörden mit vergleichbar vielen Fragen gelöchert werden, bedeutet das meist nichts Gutes. Aber manche Klagen finde ich inakzeptabel, beispielsweise Klagen über zu wenig zugeteiltes Geld oder über zu unbequeme Betten. Sie sind freiwillig hier; niemand zwingt sie zu bleiben. Ich bin weder ein Priester noch ein Sozialarbeiter oder Polizist”, sagt Pablo.

Ein schwieriges Umfeld

Zwar sind die im EVR beschäftigen Angestellten als Bundesbeamte geschützt, doch der politische Druck, die Ungeduld der Bevölkerung und der lokalen Behörden setzen ihnen gleichwohl zu.

Straftaten, die von einigen Asylsuchenden begangen werden, und die ganze politische Instrumentalisierung des Themas lassen die Migranten häufig in schlechtem Licht erschienen. Und dies, obwohl ständig Versuche unternommen werden, die Migranten besser zu integrieren.

“Ausländer sind zum Volksfeind Nummer eins geworden. Die Debatte fokussiert dabei auf schwere Fälle, ohne das Thema in seiner Gesamtheit anzugehen”, meint Gabriele. “Die Gemeinden reichen die heisse Kartoffel hin und her; genau wie die europäischen Staaten. Und während der Druck an den Grenzen zunimmt, haben die Politiker Mühe, mit dem Wandel Schritt zu halten.”

Die Schweizer Politik in Asylfragen fusst auf der Genfer Konvention, die von der Eidgenossenschaft im Jahre 1955 ratifiziert wurde. Demnach gewährt die Schweiz Flüchtlingen grundsätzlich Asyl.

Als Flüchtlinge gelten gemäss Asylgesetz Personen, “die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind.” Armut oder Arbeitslosigkeit im Heimatland stellen keine ausreichenden Gründe für einen Flüchtlingsstatus dar.

Die meisten Asylgesuche werden in den fünf Schweizer Empfangs- und Verfahrenszentren (EVZ) eingereicht: Chiasso, Basel, Kreuzlingen, Vallorbe und Altstätten.

In den letzten Jahren hat die Schweiz ihre Asylgesetzgebung verschärft. Es ist schwieriger geworden, als Flüchtling anerkannt zu werden und Asyl zu erhalten.

Im Oktober 2012 hat das Parlament unter anderem entschieden, dass Wehrdienstverweigerer (häufig aus Eritrea) kein Asyl mehr erhalten. Ausserdem ist es nicht mehr möglich, einen Asylantrag in einer Schweizer Botschaft im Ausland zu stellen.

Positiver Entscheid: Wenn ein Asylbewerber als Flüchtling anerkannt wird, erhält er eine Aufenthaltsbewilligung B und nach fünf Jahren eine Niederlassungsbewilligung C. Im Jahr 2011 erhielten 3711 Personen diesen Status; die Gesamtzahl der Asylgesuche betrug 22’551.

Provisorische Aufnahme: Personen, auf deren Asylantrag nicht eingetreten wird, deren Rückschaffung aber unmöglich ist, weil Krieg herrscht oder ein Verstoss gegen internationale Konventionen vorliegt, können mit einer Bewilligung F vorübergehend in der Schweiz bleiben. 2011 erhielten 3070 Personen eine solche Bewilligung. Weiteren 3248 Personen wurde die Bewilligung F entzogen; sie mussten daher die Schweiz verlassen.

Nichteintretens-Entscheid: Unter bestimmten Voraussetzungen wird ein Asylantrag automatisch zurückgewiesen. Der Antragsteller muss das Land verlassen. Im Jahr 2011 war dies bei der Hälfte der Antragsteller der Fall. Verschiedene Gründe können für einen solchen Nichteintretens-Entscheid den Ausschlag geben:

– Es werden keine Identitätspapiere vorgelegt

– Der Antragsteller/die Antragstellerin hat bereits einen Asylantrag in einem anderen Land des Schengen/Dublin-Raumes gestellt

– Der Asylbewerber stammt aus einem Land, das von der Schweizer Regierung als sicher erachtet wird. Die entsprechende Liste wird ständig à jour gebracht. 2009 wurden Länder wie Kosovo, Serbien und Burkina Faso auf die Liste gesetzt

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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