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Italien hat politische Blockade gewählt

Die Parlamentswahlen brachten Chaos, statt klare Kräfteverhältnisse. Keystone

Die Parlamentswahl in Italien hat keine klaren Mehrheiten ergeben, eine stabile Regierung scheint unwahrscheinlich. Das Wahlergebnis bedeute für Europa, den Reformkurs und einen Weg aus der Krise nichts Gutes, bilanziert die Schweizer Presse.

“Wenn es ein Land in Europa gibt, das wie kein anderes auf politische Stabilität angewiesen ist, dann ist dies Italien. Das Land befindet sich in der tiefsten Rezession seit Jahren”, schreiben die Südostschweiz und die Aargauer Zeitung. Doch die Wähler hätten anders entschieden. “Nach den Parlamentswahlen ist das Belpaese politisch zersplittert wie noch nie, die Bildung einer stabilen Regierung erscheint unmöglich.” Über die Hälfte der Italiener habe somit mit Berlusconi und dem Komiker Beppe Grillo zwei Populisten gewählt, die im Wahlkampf Stimmung gegen die Reformagenda von Mario Monti und gegen den Euro gemacht hätten.

“Das Land tanzt am Abgrund”, titelt die Neue Zürcher Zeitung. Ein Apparatschik und zwei Antipolitiker beherrschten nun die politische Bühne Italiens. “Bersani, Berlusconi, Grillo: Eine ungemütliche Dreierkonstellation zeichnet sich ab in Italien, eine Konstellation, in der die Bildung einer stabilen Regierung schwierig, wenn nicht geradezu unmöglich scheint.”

Die Wahlen hätten wenig Klärung im Spiel der Kräfte gebracht. Es gebe keine triumphierende Partei oder Allianz, die nun die Macht übernehmen und ausüben könne. “Im Gegenteil zeichnet sich eine noch stärkere Zersplitterung der politischen Kräfte ab als bisher”, so die NZZ weiter.

Die Krise setzt laut dem Zürcher Blatt allerdings ihren eigenen Imperativ: “Es braucht eine handlungsfähige Regierung, die Politiker werden sich zusammenraufen müssen – das erfordern die Umstände, das ist auch der Auftrag der Wähler.”

Das Mitte-Links-Bündnis hat die Wahlen zum italienischen Abgeordnetenhaus zwar denkbar knapp gewonnen – im Senat gab es allerdings eine Pattsituation.

Nach amtlichen Angaben erlangte das Mitte-Links-Bündnis mit seinem Spitzenkandidaten Pier Luigi Bersani von der Demokratischen Partei (PD) 29,54% der Stimmen im Abgeordnetenhaus. Die Mitte-Rechts-Allianz des früheren Regierungschefs Silvio Berlusconi bekam demnach 29,18% Prozent.

Die Bewegung “Fünf Sterne” des Komikers und Bloggers Beppe Grillo kam als erfolgreichste Einzelpartei auf 25,55% der Stimmen und wurde damit überraschend stark zur drittstärksten Kraft. Das im Zentrum angesiedelte Bündnis des scheidenden Regierungschefs Mario Monti erlangte im Abgeordnetenhaus 10,56%.

Gemäss dem komplizierten italienischen Wahlrecht wird der führenden Liste automatisch die absolute Mehrheit im Abgeordnetenhaus zugesprochen. Trotz des knappen Vorsprungs erhält Bersanis Linksbündnis demnach 340 der 630 Sitze im Unterhaus.

Im Senat, der zweiten, gleichberechtigten Kammer, konnte indes keines der grossen Bündnisse die für die Mehrheit nötigen 158 Sitze erringen, was das Land de facto regierungsunfähig machen dürfte. Eine stabile Regierung ist nur möglich, wenn eines der Lager die Mehrheit in beiden Kammern erringt.

Das Phänomen Grillo

Bund und Tagesanzeiger sprechen von einem “Sieg der Wutbürger”, gewonnen habe das populistische Spektakel, verloren Europa. “Mehr als die Hälfte der Italiener hat ihre Stimme Euroskeptikern und Eurogegnern gegeben, von Silvio Berlusconi über die Lega Nord und ultrarechte Grüppchen bis hin zu Beppe Grillo. Der Entertainer entpuppte sich als einziger echter Wahlsieger.” Aus dem Stand heraus habe er ein Viertel der Wähler mit einem unterhaltsamen Wutbürger-Monolog überzeugt, schreiben Bund und Tagi weiter.

Auch die Basler Zeitung widmet ihren Kommentar mehrheitlich dem Komiker Beppe Grillo und seiner erfolgreichen “5-Sterne-Bewegung”: “Der Komiker ist mit seiner Bewegung M5S durchs Land gefegt und hat die herkömmlichen Parteien überrollt wie ein Tsunami. Die Grillini sind allein gegen alle in etlichen Regionen die erste Partei geworden, landesweit hat ihnen im Schnitt jeder vierte Wähler die Stimme gegeben. Ein Land kann kaum stärker den Protest und das Misstrauen gegen die herrschende Klasse formulieren.”

Die BaZ bezeichnet Grillo als mitreissenden talentierten Rattenfänger und Schreihals, der niedermache, aber keine Antworten gebe, der “mit seiner Kapazität seine absichtlich unstrukturierte Bewegung ohne Organisationsgerüst diktatorisch im Griff hat”.

Die “Grillini” müssten nun aber Hand bieten, schreibt der Corriere del Ticino. “Die Kunst des Kompromisses ist jetzt unerlässlich. Nach dem ‘Geschrei” ihres Leaders müssten sie nun mithelfen, gangbare Wege zu gehen, um aus der Krise zu finden.

Wahl gegen Reformkurs

Für die Freiburger La Liberté gleicht Italien einem “betrunkenen Schiff”, einem Schiff ohne Kapitän. Der grosse Verlierer dieser Wahl sei Mario Monti, der den Fehler begangen habe, “an den gesunden Menschenverstand zu glauben”. Diesen Fehler habe sein Vorgänger Berlusconi vermieden.

Der Genfer Le Temps analysiert die Wahl als “Sanktion gegen Europa”. Die EU sei vom “populistischen Auftrieb in Italien” beunruhigt, lieber wäre ihr eine Koalition zwischen Pier Luigi Bersani und Mario Monti gewesen.

24 heures spricht gar vom “schlimmst möglichen Szenario”, das nun eingetreten sei.

Auch das Boulevard-Blatt Blick sieht schwarz für das südliche Nachbarland der Schweiz. “Italien versinkt im politischen Chaos. Das ist schlecht für Euro, Europa und die Schweiz.” Die drohende Patt-Situation sei “Gift für den Aufschwung”.

Laut der Basler Zeitung haben zu dieser unerträglichen Situation auch die krasse Schlappe von Mario Monti und seinem Mitte-Bündnis beigetragen, zum anderen die neu gewonnene Stärke des aus der Versenkung wieder auferstandenen Silvio Berlusconi. “Er hat keine konstruktive Macht mehr, aber so viel Kraft, dass er blockieren kann”, befürchtet die BaZ.

Bürger in der Verantwortung

Bund und Tages-Anzeiger bezeichnen den Wahlausgang in Italien als “Triumph der Illusionisten”. Aber um Illusionen nachzujagen, bedürfe es immer auch einer gehörigen Frustration. Und der Frust der Italiener sitze tief und sei offenbar stark unterschätzt worden. “Europa darf nicht nur fordern und strafen, Europa muss auch Unterstützung bieten, Perspektiven, ja vielleicht sogar Träume. Das ist die Lektion dieser italienischen Wahl.”

Die NZZ nimmt zudem die Bürger in die Verantwortung, denn auch für Italien gelte: “Das Land wird die Regierung erhalten, die es verdient. Sie wird gebildet aufgrund des Ergebnisses einer demokratischen Wahl. Besorgniserregend ist die Ausflucht, die Wähler hätten ja nichts zu bestimmen, weil die Parteibonzen über die Zusammensetzung der Wahllisten verfügten.”

So leicht könnten sich die Bürger eines demokratischen Landes nicht aus ihrer Verantwortung stehlen. “Diejenigen, die Antipolitikern folgen, müssen wissen, was sie tun. Sie bestimmen, wen sie an die Hebel der Macht lassen. Muss man den beachtlichen Zulauf für Berlusconi und Grillo mit einer italienischen Lust an Frivolität und Selbstzerstörung erklären?”

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