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Das Brexit-Jahr könnte die Schweizer Beziehungen mit Brüssel prägen

Zwei Flaggen über einem See
© Keystone / Gaetan Bally

Mitten in Europa widersetzt sich ein kleines Land seit Jahrzehnten dem Beitritt zur Europäischen Union, obwohl es von ihr praktisch umschlossen ist. Die Schweiz setzt auf bilaterale Verträge anstelle der Mitgliedschaft. Die EU macht Druck, die institutionellen Fragen in einem Rahmenvertrag zu regeln. Hier gibt es jedoch Widerstand. Eine Expertin erklärt und vergleicht die Lage mit jener Grossbritanniens.   

Eine Frau lächelt in die Kamera
Christa Tobler ist Professorin für Europarecht an den Europainstituten der Universitäten Basel und Leiden (Niederlande). Sie hat sich unter anderem auf die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU spezialisiert. Zusammen mit Jacques Beglinger hat sie ein Brevier zum Institutionellen Rahmenabkommen für ein allgemeines Publikum verfasst, das auf dem Internet frei zum Download zugänglich ist und regelmässig aufdatiert wird. zvg

swissinfo.ch: Wird 2020 zum Schicksalsjahr für die Schweiz in Sachen Beziehungen zur EU?
Christa Tobler: Es dürfte jedenfalls ein Jahr werden, in dem sich wichtige Fragen klären. Dazu gehört sicher die Volksabstimmung vom Mai über die sogenannte Begrenzungsinitiative, welche die Personenfreizügigkeit abschaffen will. Weiter wird die EU-Kommission im Frühling einen Bericht über die Weiterführung ihres Angemessenheitsbeschlusses zum Schweizer Datenschutz vorlegen. Die Schweiz modernisiert zurzeit ihr Datenschutzgesetz. Auch bleibt abzuwarten, was in Sachen Institutionelles Abkommen geschehen wird. Dieses Abkommen soll für einen Teil der heutigen und der künftigen bilateralen Abkommen neue “Spielregeln” (einen neuen institutionellen Rahmen) schaffen.

swissinfo.ch: Auf einer Skala von 1 bis 10 (totales Zerwürfnis bis traute Harmonie), wo stehen wir heute?

C.T.: Nach meiner Einschätzung etwa bei 7, das heisst gut, aber es könnte noch besser sein. Man sollte nicht den Fehler machen, die teilweise Uneinigkeit betreffend das Institutionelle Abkommen auf das gesamte Verhältnis auszuweiten. Insgesamt ist dieses Verhältnis nach wie vor gut.

swissinfo.ch: Wie geht es nun weiter?

C.T.: Viel wird vom Ergebnis der Abstimmung über die Begrenzungsinitiative abhängen.

swissinfo.ch: Inwiefern?

C.T.: Mit der Begrenzungsinitiative stehen Kernbestandteile des bilateralen Rechts auf dem Spiel. Wird sie angenommen, kann der heutige bilaterale Weg nicht weitergeführt werden. Wird sie abgelehnt, so wird sich das Augenmerk auf die weitere Arbeit mit diesem Weg richten. Zudem wird innenpolitisch sicher scharf beobachtet werden, wie deutlich das Resultat in die eine oder andere Richtung ausgefallen ist.

swissinfo.ch: Was passiert, wenn die Schweiz Nein zum Rahmenabkommen sagt?

C.T.: Dann wird es nach Aussage der EU nicht möglich sein, neue sogenannte Marktzugangsabkommen abzuschliessen, zum Beispiel das geplante Stromabkommen. Die EU hat auch angekündigt, dass sie dann unter Umständen nicht mehr bereit sein könnte, die heutigen Abkommen wie bisher neuem EU-Recht anzupassen. Damit würden wichtige Abkommen an Wert verlieren und der bilaterale Weg insgesamt nicht mehr gleich gut funktionieren wie jetzt. Das würden zum Beispiel die Unternehmen, welche ihre Produkte ins Ausland verkaufen, spüren, und das wiederum dürfte schweizerische Arbeitsplätze gefährden.

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swissinfo.ch: Die EU sagt, Nachverhandlungen seien ausgeschlossen. Ist diese Aussage Ihrer Einschätzung nach sakrosankt oder könnte die EU – ähnlich wie bei Grossbritannien – doch noch bereit sein, in Detailfragen Zugeständnisse zu machen?

C.T.: Im Fall des Vereinigten Königreichs bestanden die Nachverhandlungen zu einem wichtigen Teil darin, dass zu dem ursprünglich von der EU favorisierten Modell betreffend die inner-irische Grenze zurückgekehrt wurde. Darin liegt nicht wirklich ein Zugeständnis seitens der EU. Was die Schweiz und das Institutionelle Abkommen anbelangt, so dürfte die EU nach meiner Einschätzung zu erklärenden Zusätzen bereit sind, aber wohl eher nicht zu Änderungen des eigentlichen Vertragstextes. Der Grund dafür liegt darin, dass die EU der Meinung ist, sie sei der Schweiz schon jetzt in wichtigen Punkten entgegengekommen.

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swissinfo.ch: Wie realistisch ist ein Beitritt der Schweiz zur EU?

C.T.: Zurzeit sicher unrealistisch. Dafür gibt es keine Mehrheit, und die Bundesregierung sieht die EU-Mitgliedschaft nicht als Ziel.

swissinfo.ch: Was unterscheidet die Schweiz im Moment von anderen Ländern, die EU-Mitglied sind?

C.T.: Die Schweiz nimmt zu einem guten Teil an einem Kernbestandteil des EU-Projekts teil, nämlich dem Binnenmarkt, allerdings bisher mit zum Teil anderen Spielregeln. Auch arbeitet sie in diversen weiteren Bereichen mit der EU zusammen. Die Schweiz ist aber nicht Mitglied und deshalb auch nicht an EU-internen Entscheidungen beteiligt. Viele Aspekte des EU-Projekts gelten nicht für die Schweiz, zum Beispiel Abkommen, welche die EU mit anderen Staaten abschliesst, oder die gemeinsame EU-Währung, der Euro. Im Gegensatz zu den Mitgliedstaaten hat die Schweiz eher die Stellung eines in Teilbereichen assoziierten Staats.

swissinfo.ch: Inwiefern würde sich die Schweiz nach Unterzeichnung eines Rahmenabkommens noch von gewöhnlichen EU-Mitgliedstaaten unterscheiden?

C.T.: In den gleichen Punkten wie bisher. Die erwähnten neuen Spielregeln betreffen weniger eine Änderung im Vergleich zur Stellung der EU-Mitgliedstaaten, als vielmehr im Vergleich zur Stellung der anderen EFTA-Staaten (Island, Liechtenstein, Norwegen) und im EWR. Die Schweiz würde mit dem Institutionellen Abkommen diesen Ländern ähnlicher.

swissinfo.ch: Die Schweiz gilt als Rosinenpickerin: Sie will die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft, aber ohne ihre Souveränität durch einen echten Beitritt zu verlieren. Was sagen Sie zu dieser Strategie?

C.T.: Es ist verständlich, dass ein Land für sich das Beste will und zwar zu einem möglichst günstigen Preis. Durch das bilaterale Recht kann die Schweiz niemals alle Vorteile einer EU-Mitgliedschaft erlangen. Sie beteiligt sich vielmehr an gewissen Tätigkeitsbereichen der EU. Die Herausforderung liegt darin zu erkennen, dass auch das einen gewissen Preis hat. Man kann sich nicht an einem multilateralen Projekt beteiligen und dabei vollständig unabhängig bleiben.

swissinfo.ch: Was würde mit der direkten Demokratie passieren, wenn die Schweiz der EU beiträte?

C.T.: Formal nichts, man könnte weiterhin abstimmen, Initiativen starten und das Referendum ergreifen. Allerdings geniesst das EU-Recht Vorrang vor dem internen Recht der Mitgliedstaaten. Dem EU-Recht widersprechendes nationales Recht darf nicht angewendet und muss geändert werden. Insofern werden die direktdemokratischen Instrumente natürlich faktisch beeinträchtigt. Das ist grundsätzlich schon jetzt der Fall, soweit es die Vorgaben des Völkerrechts betrifft. Das EU-Recht ist aber viel stärker in der Durchsetzung und betrifft zudem viele Bereiche.

swissinfo.ch: Wird Grossbritannien nach einem harten Brexit schlechter dastehen als die Schweiz?

C.T.: Meiner Meinung nach ja: Die Schweiz hat geregelte Beziehungen mit ihren Nachbarstaaten, das Vereinigte Königreich aber muss diesbezüglich von vorne anfangen.

swissinfo.ch: Wird die Schweiz zum besonderen Freund Grossbritanniens, weil sie die bilateralen Beziehungen zu Grossbritannien – anders als die EU – frühzeitig nach dem Brexit-Entscheid geregelt hat?

C.T.: Das ist für die Schweiz und das Vereinigte Königreich natürlich günstig. Im Fall der Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich musste mehr geregelt werden, in erster Linie den Austritt, und das ist an sich schon kompliziert …

Das Interview wurde schriftlich geführt.

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