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“Den Franken an den Dollar binden”

Thilo Sarrazin: Heiss umstritten, aber kühl kontrovers, spaltet Deutschland in Bewunderer und Verärgerte. Keystone

Der umstrittene Autor Thilo Sarrazin sieht keine klare Idee, wie die Politische Union Europas aussehen soll, wenn es schon mit dem Euro nicht funktioniert. Der Franken soll sich vielleicht besser am Dollar orientieren. Die Nationalbank werde "noch manövrieren müssen".

Nachdem Thilo Sarrazin mit seinem ersten Buch über Deutschland und die Ausländer viel politisches Porzellan zerschlagen und eine Affäre nach der anderen ausgelöst hat, äussert er sich in seinem zweiten Buch als Sachverständiger über den Euro und die Währungsunion.

Von Währungs-, Inflations- und Zinspolitik versteht er als ehemaliges Mitglied der Deutschen Bundesbank einiges. Er spricht dabei Vieles aus, was Politiker entweder nicht sagen wollen oder selbst nicht wissen. “Würden sie mein Buch lesen, könnten sie nachher zumindest besser entscheiden”, sagt Sarrazin selbstbewusst im Gespräch mit swissinfo.ch.

swissinfo.ch: Im Süden Europas ziehen die Reichen Geld von ihren Bankkonten ab. In Nordeuropa kauft man Immobilien. Grund zur Beunruhigung?

Thilo Sarrazin: Nichts von dem, was gegenwärtig geschieht, ist für mich unerwartet. Südeuropa einschliesslich Frankreich steht vor der Doppelaufgabe, die öffentlichen Schulden abzubauen und die Löhne zu senken. Gelingt dies nicht, habe ich Angst, dass die Kluft zwischen Nord und Süd weiterwächst.

swissinfo.ch: Was ist denn schief gelaufen?

T.S.: Das Konzept ist gescheitert, eine gemeinsame Währung haben zu wollen, ohne einen gemeinsamen Staat aufzubauen. Die Maastricht-Auflagen hätten die Währungsunion retten können, aber sie wurden allesamt nicht eingehalten. Der Süden hatte seine Kosten nicht im Griff, und alle zusammen hatten ihren Staatshaushalt nicht im Griff.

Jetzt wird der Norden den Süden wohl rauskaufen, was gegen die Vertragsbestimmungen der Währungsunion verstösst.

swissinfo.ch: Sie zeigen in Ihrem Buch, dass Europa den Euro gar nicht braucht.

T.S.: Ich zeige im Buch auf, was zu tun ist. Die Notenbanken sollten den Südeuropäern ihre Leistungsbilanz-Defizite und Schulden nicht finanzieren. Wir müssen auf das Prinzip zurückkommen, dass jedes Land für seine Schulden selbst aufkommt. Sonst hat die Währungsunion keinen dauerhaften Bestand.

swissinfo.ch: Sie sagen, der Euro sei ein Fehlkonstrukt. Deutsche Politiker sagen aber, der Euro habe sich positiv auf den gemeinsamen Markt ausgewirkt. Was stimmt jetzt?

T.S.: Die Politiker, die das sagen, waren diejenigen, welche die Währungsunion in den letzten 15 Jahren in die Krise geführt haben. Die Politiker-Klasse hat gegenüber dem Euro versagt. Jetzt braucht es ein neues Denken.

Die Blüte Südeuropas zu Beginn der Währungsunion wegen der niedrigen Zinsen war eine Scheinblüte. Dieser Zinsbonus hat in einen gewaltigen Immobilienboom geführt – und jetzt lähmen hohe Kosten und Defizite die Länder im Süden.

swissinfo.ch: Sie äussern sich auch über die Mentalitätsunterschiede. Ist das Polemik?

T.S.: Hätten sich alle Länder an die Regeln gehalten, wären sie alle wie die Deutschen… Die Länder sind aber unterschiedlich. Das Problem besteht darin, dass die Währungsunion nur dann funktionieren kann, wenn alle wie die Deutschen sind!

swissinfo.ch: Gut, dass die Schweizer da anders sind! Die Schweiz leidet zwar ebenfalls, gibt sich aber unabhängig.

T.S.: Die Schweiz kannte schon in den 1970er-Jahren Aufwertungsprobleme. Dann wurde es bis 2010 etwas ruhiger. Seither ist der Druck nach oben wieder da. Die Nationalbank ist zwar frei in ihrer Politik. Wenn sie jedoch zu lange an der 1.20-Franken-pro-Euro-Relation festhält, riskiert sie, sich an den Euro-Inflationsrisiken anzustecken. Vielleicht sollte man den Franken besser an den Dollar binden.

swissinfo.ch: Die Bindung an den Euro hat mit der für die Schweiz so wichtigen Exportwirtschaft zu tun. Was würden Sie empfehlen?

T.S.: Die Schweiz muss abwägen: Schutz der Exportwirtschaft gegen Vorteil billiger Einfuhren. Abwägen muss sie auch die Risiken einer höheren Inflation gegen die Vorteile eines stabileren Wechselkurses. Das macht die Nationalbank am besten selber. Aber sie wird da wohl etwas manövrieren müssen.

swissinfo.ch: Im Buch loben Sie die Schweiz. Wäre das Modell Schweiz nicht ein Vorbild für die EU, wie die aktuelle Krise zu lösen wäre?

T.S.: Nichts ist eins zu eins übertragbar. Immerhin zeigen Länder wie die kleine Schweiz und die grossen USA, wie Bundesstaaten funktionieren. Klare Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen Zentralstaat und Bundesstaaten sowie finanzielle Autonomie und Selbstverwaltung der Bundesstaaten.

Anderseits spielt der Finanzausgleich, der für die Schweiz so wichtig ist, für die USA keine grosse Rolle. Übertragen auf Europa heisst das: Es kann nicht die Aufgabe Deutschlands sein, anderen Staaten Geld zu geben.

swissinfo.ch: Aber wäre ein Finanzausgleich zwischen den Staaten der EU nicht auch nötig, um die Ungleichgewichte innerhalb Europas auszugleichen?

T.S.: Man muss zwischen der Europäischen Union und der Währungsunion unterscheiden. Ein gemeinsamer Wirtschaftsraum und eine Zollunion, bei denen die Schweiz ebenfalls mitmacht, ist keine Währungsunion.

swissinfo.ch: Bundeskanzlerin Angela Merkel fordert sogar eine politische Union.

T.S.: Ein Bundesstaat wäre für eine Union Europas die einzige Lösung – so wie der Schweizer Bundesstaat. Aber wie konkret ein Europäischer Bundesstaat aussehen könnte, weiss niemand. Alle Bereiche zwischen Bundesstaat und Staatenbund liegen im Unscharfen. Ich jedenfalls kenne keine Gestaltungsideen für eine funktionsfähige politische Union.

swissinfo.ch: Ist das der Grund, dass einer ihrer Kritiker, der ehemalige deutsche Finanzminister Peer Steinbrück, Sie als perspektivlos und geschichtsvergessen kritisiert?

T.S.: Ich habe wahrscheinlich ein breiteres Geschichtswissen als die meisten Politiker, die an der Währungsunion beteiligt waren. Wer sagt, ich böte im Buch keine Perspektiven, hat es nicht gelesen. Nach all den gemachten Fehlern soll man sich jetzt strikt an die Verträge halten.

Und sollte die Europäische Zentralbank mit ihrer dauerhaften Inflationspolitik vertragsbrüchig werden, müsste man eben die Währungsunion verlassen. Aber Geld soll Deutschland keines mehr geben. Dies sollte eigentlich Perspektive genug sein.

Was ich nicht gebe, sind Prognosen. Diese hängen ja ab vom weiteren politischen Verhalten, und das lässt sich bekanntlich nicht vorhersagen.

Der deutsche Bestseller-Autor und Verwaltungsspezialist stösst durch provokant und kontrovers formulierte Thesen Diskussionen an, die vor allem, aber nicht nur, die Linke verärgern.

In “Deutschland schafft sich ab” schrieb Sarrazin über die explosive Kombination von demografischem Rückgang, Ausländerfrage und unterschiedlichen Geburtenraten – in Deutschland ein Tabuthema.

Sarrazins (Interview-)Äusserungen wurden aber von Leuten wie dem Philosophen Peter Sloderdjik, dem jüdischen Publizisten Ralph Giordano, der Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek oder dem Altbundeskanzler Helmut Schmidt unterstützt.

In “Europa braucht den Euro nicht” empfindet Sarrazin die Einheitswährung als Zwangskorsett, wodurch “aus der Krise des Währungssystems eine Legitimitätskrise des politischen Systems” entstehe.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble kritisiert an Sarrazin, dass er so tue, als ob es zu bestimmten Themen Denk- und Sprechverbote gäbe – gegen die er dann verstosse.

SPD- und Grüne-Politiker werfen ihm “Geschichtsvergessenheit und Geschichtsblindheit”, “D-Mark-Chauvinismus” und reaktionäre Thesen vor.

Die SPD hat gegen ihr Mitglied Sarrazin zwei Parteiordnungsverfahren angestrengt, bekannte Parteigrössen wollten ihn ausschliessen, was aber nicht gelang.

Der Berliner Sarrazin war ab 2002 Berliner Senator für Finanzen. 2009 legte er sein Amt nieder, und folgte einer Berufung in den Vorstand der Bundesbank. Die Buba ist als Zentralbank Deutschlands ein Teil des Europäischen Systems der Zentralbanken.

Schon im Mai 2009 distanzierte sich die Buba nach einem Interview von Sarrazin im Magazin stern von seinen Äusserungen. Sie wollte ihn im September entlassen.

Ein Jahr später wurde er vom (inzwischen ebenfalls entlassenen) Bundespräsident Christian Wulff aus dem Vorstand entlassen.

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