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Viel Geld und Autorität vs. direkte Demokratie

"Strippenzieher des Umbaus zu einem Wirtschaftsparlament": Economiesuisse-Präsident und Ex-Nationalrat Gerold Bührer (links) und Peter Spuhler, Nationalrat und Präsident der Gruppe Handel und Industrie. Keystone

Economiesuisse formiere in Bern ein Wirtschaftsparlament, die SVP greife mit verfassungswidrigen Statuten nach der Mehrheit: Im Wahljahr 2011 steckt die Schweiz laut den Bundeshaus-Experten und Buchautoren Oswald Sigg und Viktor Parma tief in der Krise.

“Ein Symptom der Krise ist die Uninformiertheit und Unwissenheit selbst von höchsten Funktionsträgern”, sagt Viktor Parma bei der Vorstellung der Publikation.

Der langjährige Bundeshausjournalist illustriert dies am Delikt “Verleitung zur Spekulation”, das 1993 auf Druck der Banken aus dem Strafgesetzbuch gestrichen worden war.

“Selbst der damalige zuständige Bundesrat (Finanzminister Otto Stich, die Red.) hatte nichts von der Streichung gewusst”, berichtet Parma. Noch schlimmer sei aber die Unwissenheit und Uninformiertheit des Souveräns. Die Streichung des Paragraphen sei je weder von den Medien noch von einer Partei erwähnt worden, so Parma, der sich selber explizit nicht von der Kritik ausnimmt. “Eine Demokratie, die sich an der Nase herumführen lässt, lebt gefährlich”, sagt er.

Angesichts der heutigen Börsenturbulenzen bezeichnet er es als dringend, den ehemaligen Art. 158 wieder einzuführen. “Dieses Beispiel steht für zahlreiche Sachverhalte, die in einer Demokratie gewusst werden müssen”, sagt Parma.

Unbemerkte Zäsur 

Damit leitete er über zu Lücken im Wissen über die Schweizerische Volkspartei. Mit dem Ja zur Ausschaffungs-Initiative sei es der SVP 2010 als erster Partei gelungen, eine eigene Volksinitiative “allein” zum Erfolg zu bringen.

Eine Zäsur, die unbemerkt geblieben sei, dabei steht sie laut Viktor Parma für die veränderten Machtverhältnisse. Im vorangegangenen Abstimmungskampf hatten sich die anderen Parteien gegen die Annahme des Begehrens ausgesprochen.

Statuten gegen Verfassung 

Heftig kritisieren die Autoren auch die Statuten der Partei, welche für Mitglieder, die sich gegen den Willen der SVP-Fraktion in den Bundesrat wählen lassen, den Ausschluss aus Fraktion und Partei vorsehen.

Diese Änderung wurde nach der Abwahl Christoph Blochers im Jahr 2007 durchgesetzt. An seiner Stelle hatte die Bundesversammlung Eveline Widmer-Schlumpf gewählt, die der SVP-Spitze nicht genehm gewesen war. Die Bündnerin war danach samt grossem Teil der Kantonalpartei ausgeschlossen worden.

Diese Ausschlussdrohung verletze in flagranter Weise die Bundesverfassung, deren Art. 161 Instruktionen an Parlamentsmitglieder verbietet, hält Viktor Parma fest.

Entwürdigte Volksinitiative 

Auch Oswald Sigg, ehemaliger Sprecher des Bundesrates und Vizekanzler, erinnert zuerst an Grundsätzliches, wenn er auf die “zwei Gesichter” der direkten Demokratie hinweist. Die zentralen politischen Institutionen Referendum und Initiative könnten fortschrittliche Anliegen verhindern und reaktionäre durchbringen und umgekehrt.

Direkte Demokratie sei also sowohl fortschrittlich als auch rückständig. Bei den politischen Institutionen herrscht laut Sigg grosser Verbesserungsbedarf. “Heute ist die Volksinitiative zum Kernelement des politischen Marketings der Parteien verkommen. Es gilt, ihr die Würde als zentrales Institut der direkten Demokratie zurückzugeben.”

Dazu fordert Sigg, dass die Parteienfinanzierung gesetzlich “mindestens im Ansatz” geregelt werden müsse. “Parteien mit Kandidaten oder Vertretern in den eidgenössischen Räten haben sich ins Parteienregister der Bundeskanzlei unter Offenlegung ihrer Finanzen einzutragen”, fordert Sigg gegenüber swissinfo.ch. Parallel zur Finanztransparenz der Parteien gelte es, die Verwendung der Gelder in Wahlen und Abstimmungen demokratischer zu gestalten.

Weil die oft als Musterdemokratie gerühmte Schweiz keine gesetzlich geregelte Parteienfinanzierung kennt, figuriert sie im jüngsten Demokratiebarometer der Universität Zürich von Anfang Jahr bloss auf dem 14. Platz.

Riesige Summen aus dem Dunkeln 

In ihrem Kampf nach der Mehrheit der Stimmen kann sich die SVP im Wahljahr auf die parteinahe “Stiftung für bürgerliche Politik” stützen. Die Institution erzielt einen Jahresumsatz von 200 bis 300 Millionen Franken. Hätte die Sonntagspresse nicht darüber berichtet, wäre die Geldquelle im Dunkeln geblieben.

Ob Rechts- oder Linkspartei: Fakt ist, dass ein Gesetz demokratische Transparenz in die Dunkelkammer Parteienfinanzierung bringen würde.

“Umbau zum Wirtschaftsparlament” 

Als weitere Dunkelkammer in der direkten Demokratie leuchten die beiden Autoren Economiesuisse aus. Der Dachverband der Schweizer Wirtschaft betreut rund 130 der insgesamt 246 Mitglieder des Schweizer Parlaments. Diese gehören der Gruppe Handel und Industrie an, deren Sekretariat vom Dachverband geführt wird.

Die grosse Organisation mit 60 Angestellten betreibe mit riesigem Aufwand eine intensive Überzeugungsarbeit, beschreibt Parma. “Vor jeder Session liefert sie den Mitgliedern der Gruppe Handel und Industrie ein dickes Bündel mit Direktiven, wie sie in jeder einzelnen Abstimmung abzustimmen hätten.” Wer abweiche, würde über die Gründe befragt. Damit sei das Instruktionsverbot zwar nicht verletzt, aber immerhin geritzt, hält Parma fest.

Im Unterschied aber zu zahlreichen anderen Interessengruppen, die Volksvertreter in ihrem Sinne zu beeinflussen versuchen, führt die Gruppe Handel und Industrie ein praktisch klandestines Dasein. Im Register der Parlamentsdienste ist sie nicht eingetragen, was eine Verletzung der gesetzlichen Meldepflicht darstellt.

Die Spur zu ihrer Existenz war bereits 2000 gelegt worden. Damals hatte SVP-Ständerat Maximilian Reimann seine Kollegen vor einer Abstimmung an die Empfehlungen von Novartis-Chef Daniel Vasella erinnert, welche dieser am Vorabend an einer Veranstaltung der Gruppe abgegeben hatte. Erst elf Jahre später gelingt es den beiden Autoren, mehr Licht und damit Transparenz in das Wirken des Wirtschaftsverbandes zu bringen.

Schon die Vorgänger-Organisation von Economiesuisse, der Schweizerische Handels- und Industrieverein, hatte eine grosse Macht ausgespielt. Dessen Präsident sei als achter Bundesrat bezeichnet worden, sagt Sigg. Wo liegt da der Unterschied zum Economiesuisse-Einfluss von heute?

“Es sind die Summen. Es braucht heute wahnsinnig viel Geld, um überhaupt nur schon gehört zu werden. Um es auf den Punkt zu bringen: Die SVP hat mehr Geld als die anderen Parteien, Economiesuisse mehr Geld als die anderen Verbände”, sagt Viktor Parma.

Und das Schlusswort von Oswald Sigg: “Wir wollen nicht die Schweiz retten, das hat sie zum Glück nicht nötig. Wir sind zuversichtlich, denn die direkte Demokratie mit ihren zwei Gesichtern kann sich nicht nur in Extremis selbst abschaffen, sondern sie kann sich auch selbst verbessern. Dazu wollen wir einen kleinen Beitrag liefern.”

“Die käufliche Schweiz. Für die Rückeroberung der Demokratie durch ihre Bürger” lautet der vollständige Titel des Buches. Nehmen die Schweizerinnen und Schweizer die initiierte Diskussion über die Verbesserung der direkten Demokratie auf, wie dies Sigg und Parma erhoffen, hat die Rückeroberung begonnen.

Im Buch ruft Ex-Bundesratssprecher und –Vizekanzler Oswald Sigg in Erinnerung, dass der Schweizer Bundesrat laut Verfassung eine Kollegialbehörde ist.

Aber statt Differenzen aus zu diskutieren, bis eine möglichst für alle Mitglieder tragbare Lösung gefunden sei, werde bereits nach kurzer Zeit abgestimmt.

“Ein Kollegium aber, in dem es Sieger und Verlierer gibt, ist keins mehr. Wenn der Bundesrat wie ein kleines Parlament per Abstimmungen entscheidet, handelt er dem Verfassungsgebot des kollegialen Entscheidens zuwider”, schreibt Sigg.

Diese Unsitte stamme aus der Amtszeit Christoph Blochers. Dieser habe unter dem Hinweis, dass ja doch keine Lösung gefunden werde, jeweils auf eine Abstimmung gedrängt.

Neben der Rückkehr zur kollegialen Entscheidfindung im Diskussionsverfahren schlägt Sigg vor, dass der Bundespräsident stets das Aussendepartement führt, nach dem Motto “Bewegung täte dem Bundesrat gut”.

Diese Regelung hatte in den ersten 50 Jahren des Bundessstaats bestanden.

Dies würde laut Sigg zu einer “natürlichen Rotation auf den Chefsesseln der Departemente” führen.

Schliesslich sollten die Bundesräte laut Sigg an einem runden Tisch tagen statt wie bisher wie Schüler hinter ihrem “Pültchen” zu sitzen.

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