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Initiative stellt Beziehungen zur EU in Frage

Arbeitskräfte aus der EU: auch auf dem Bau begehrt. Keystone

Ein Ja zur Zuwanderungs-Initiative hätte weitreichende Konsequenzen für die Beziehungen der Schweiz zur EU, denn Ausländer-Kontingente sind nicht kompatibel mit dem EU-Grundrecht der Personenfreizügigkeit. Experten rechnen deshalb mit Spannungen und mit Gegenmassnahmen mit unabsehbaren Folgen.

“Ich gehe davon aus, dass eine grosse Rechtsunsicherheit entstehen würde und die Schweiz unter ständigem Druck stände”, sagt Thomas Cottier, Ordinarius für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität Bern, gegenüber swissinfo.ch. “Denn die EU hätte die Möglichkeit, die Personenfreizügigkeit und mit ihr auch alle andern bilateralen Abkommen des ersten Paketes zu kündigen.”

“Druckmittel gibt es viele. Eine Kündigung der Bilateralen seitens der EU wäre das letzte Mittel. Ich denke, das wäre nicht eine erste Dringlichkeit, aber die EU würde Sanktionen ergreifen und das Klima zwischen der Schweiz und der EU würde in den Keller runter fallen”, sagt der Politologe und Europa-Experte Dieter Freiburghaus: Dann wäre es für lange Zeit vorbei mit neuen Verhandlungen und den von Aussenminister Didier Burkhalter geplanten Verhandlungen über ein institutionelles Abkommen mit der EU., so Freiburghaus.

Nach dem Nein der Schweizer Stimmbürger zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im Jahr 1992 beschloss der Bundesrat, mit der EU sektorielle Verhandlungen aufzunehmen.

Die Schweiz wollte sich damit einen diskriminierungsfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt sichern.

Die EU erklärte sich Ende 1993 in sieben Bereichen (Personenfreizügigkeit, Technische Handelshemmnisse, Öffentliches Beschaffungswesen, Landwirtschaft, Landverkehr, Luftverkehr, Forschung) verhandlungsbereit. Sie machte jedoch zur Bedingung, dass die Abkommen parallel verhandelt und gemeinsam in Kraft gesetzt werden müssten.

Die Abkommen wurden darum rechtlich mit einer sogenannten “Guillotine-Klausel” verknüpft. Diese bestimmt, dass die Verträge nur gemeinsam in Kraft gesetzt werden können. Wird eines der Abkommen nicht verlängert bzw. gekündigt, werden auch die übrigen ausser Kraft gesetzt.

Diese so genannten Bilateralen I-Abkommen  wurden am 21. Mai 2000 vom Volk mit 67,2% Ja-Stimmen gutgeheissen und am 1. Juni 2002 in Kraft gesetzt.

Die von der SVP-Initiative angestrebte Neuverhandlung der Personenfreizügigkeit ist Teil der Bilateralen I

Die Bilateralen II umfassen zehn Abkommen (u.a.Schengen/Dublin-Abkommen, Zinsbesteuerung, Betrugsbekämpfung und Bildung), dehnen die Zusammenarbeit mit der EU auf weitere zentrale politische Bereiche aus und wurden vom Parlament im Jahr 2004 gutgeheissen.

Die vier Grundfreiheiten der EU

Die offizielle EU-Haltung ist klar: “Die Mitgliedstaaten würden niemals die Loslösung der Personenfreizügigkeit von den übrigen Grundfreiheiten akzeptieren. Ich hoffe, dass die Schweizer dies verstehen”, sagte der Präsident der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung.

Mit andern Worten: wenn die Schweiz die Personenfreizügigkeit nicht mehr respektieren würde, dann wäre auch die andern Grundfreiheiten – der Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Kapital –in Frage gestellt. “Die Personenfreizügigkeit ist eines der Kernstücke der europäischen Integration. Man kann sie vergleichen mit der Niederlassungsfreiheit, die die Schweiz mit der Bundesverfassung 1848 eingeführt hat”, sagt Thomas Cottier. Effektiv konnten die Bewohner der Schweiz vor 1848 nicht ohne Hindernisse von einem Kanton in einen andern oder von einer Sprachregion in eine andere umziehen.

SVP will Kontingente

Die Schweiz hat die Personenfreizügigkeit mit den EU-Mitgliedländern seit 2002 schrittweise eingeführt. Seither kommen jährlich bis zu 80’000 ausländische Arbeitskräfte – darunter 75% aus der EU – in das Land. Das ist der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) ein Dorn im Auge. Deshalb hat sie die Volksinitiative “Gegen Masseneinwanderung” lanciert.

Diese verlangt, dass die Zuwanderung wieder mit Kontingenten geregelt und das Personenfreizügigkeits-Abkommen mit der EU neu verhandelt wird. Nicht nur die Schweiz und ihre Wirtschaft hätten ein Interesse an guten Beziehungen mit der EU, das sei auch umgekehrt der Fall. Die Schweiz sei deshalb in einer starken Position, argumentiert die SVP.

Ein Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative könnte laut der Auslandschweizer-Organisation ASO “dramatische Folgen” haben für die Schweizer, die in einem EU-Land leben.

427’000 der 715’000 Auslandschweizer leben in einem EU-Land. Sie wären von der Abstimmung “unmittelbar betroffen. Sie profitieren sehr direkt von der Personenfreizügigkeit, dank der sie eine Arbeitsstelle in einem EU-Land suchen und sich dort frei niederlassen können”, schreibt die ASO in einer Mitteilung.

Hohe Hürde für die EU

Man könne “nie voraussagen, wie sich ein Partner verhalten wird”, sagt Thomas Cottier. “Die EU ist ein komplexes Gebilde, aber auch pragmatisch, aber ich würde schon die Prognose wagen, dass die EU da keinen Spielraum sieht.” Deshalb halte er Neuverhandlungen “für nicht realistisch”. Im Falle eines Ja zur Initiative könne die Schweiz aber “rechtlich gesehen das Freizügigkeits-Abkommen bestehen lassen und auf eine Reaktion der EU warten. Es ist denkbar, dass die EU die Verträge einseitig künden würde. Da es ein so genanntes gemischtes Abkommen ist, brauchte es dafür einen einstimmigen Beschluss aller EU-Staaten”.

Theoretisch könnten die EU-Staaten das Abkommen zwar künden, aber in der Praxis sei das unwahrscheinlich, denn die EU-Staaten seien in dieser Frage kaum einig, prophezeit man in Brüssel. Dennoch würde die EU nicht untätig bleiben. “Die Union würde an Glaubwürdigkeit verlieren, wenn sie nicht reagieren würde. Doch sie muss auch ihre eigenen Interessen schützen. Sanktionen würden nicht lediglich die Schweiz bestrafen”, sagt eine EU-Quelle gegenüber swissinfo.ch.

Schwammig

Auch auf Schweizer Seite wären die Folgen nach einem Ja zur Initiative nicht klar und  verschiedene Szenarien denkbar. “Die Initiative ist, positiv ausgedrückt, extrem offen, oder, negativ ausgedrückt, extrem lausig formuliert”, sagt Dieter Freiburghaus. In der Tat fordert die Initiative zwar Kontingente für sämtliche denkbaren Gruppen von Ausländern, legt jedoch keine Höchstzahlen fest. Zudem müssten die Kontingente die “gesamtwirtschaftlichen Interessen” der Schweiz  berücksichtigen.

Es sei sehr wohl möglich, dass Regierung und Parlament im Falle eines Ja bei der Umsetzung der Initiative die Kontingente so “grosszügig und so umfassend festlegen werden, dass es nirgends zu Einschränkungen kommen wird”, sagt Freiburghaus.

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