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“Freier Personenverkehr: so heilig wie Kapitalverkehr”

Die EU werde ihre Grundwerte nicht aufgeben, ist Bruno Maçães überzeugt. Reuters

Viele Regierungen bedauern den Entscheid des Schweizer Stimmvolks, Einwandererkontingente einzuführen. Der portugiesische Staatssekretär für Europa-Angelegenheiten, Bruno Maçães, sagt, die EU werde keinen ihrer Grundwerte aufgeben. Er verlangt aber, dass beide Seiten den Schaden minimieren.

Der Entscheid der Schweiz, die Immigration zu beschränken, könnte auch jenseits der Grenzen Folgen haben. Wenige Monate vor den europäischen Wahlen, könnte die Schweizer Volksabstimmung vom 9. Februar 2014 den populistischen Parteien und Euroskeptikern auf dem ganzen Kontinent Auftrieb geben. Die EU werde ihre Grundwerte aber nicht preisgeben, ist Bruno Maçães überzeugt.

swissinfo.ch: Wie nahmen Sie die Nachricht vom Volksentscheid vom 9. Februar in der Schweiz auf?

Bruno Maçães: Ich war besorgt und überrascht; denn aufgrund der Meinungsumfragen erwartete ich dieses Ergebnis nicht. Ich befand mich gerade an einer Sitzung mit Ministern anderer EU-Staaten in Brüssel. Ich glaube, dass allgemein Sorge um die Zukunft herrscht.

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Portugiesen in der Schweiz beunruhigt

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Schweizer Regierung will bis im Juni einen Plan vorlegen, wie die Volksinitiative “gegen Masseneinwanderung” umgesetzt werden soll. Dies hat der Bundesrat am Mittwoch angekündigt. Als erstes soll das Justizdepartement einen Gesetzesentwurf ausarbeiten. Gemäss Initiative müssen die Kontingente in spätestens drei Jahren Realität sein. Die Regierung will zügig handeln, um einer möglichen Lawine von Retorsionsmassnahmen…

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swissinfo.ch: Aussenminister Rui Machete erklärte am Tag nach der Abstimmung, dass die Regierung wegen der illegal in der Schweiz lebenden Landsleute besorgt sei. Was kann man für sie tun?

B.M.: Zuerst muss portugiesischen Einwanderern garantiert werden, dass sie auf unseren Konsulaten und Botschaften alle notwendigen Informationen zur Verfügung haben, und wir sie unterstützen werden. Ich glaube, dass allen Seiten klar ist, dass der Prozess langsam sein wird. Wir müssen unseren Landsleuten zur Seite stehen und ihnen  bei der Verteidigung ihrer Interessen und derjenigen der EU behilflich sein.

sswissinfo.ch: Die Portugiesen sind die drittgrösste Ausländerkolonie der Schweiz. Welche Folgen kann für sie die Wiedereinführung von Einwandererkontingenten haben?

B.M.: Ich hoffe, wenige oder noch besser überhaupt keine. Der Grossteil der Portugiesen lebt legal in der Schweiz und wird von diesem Entscheid nicht betroffen. Ferner glaube ich, dass in der Schweiz die Meinung vorherrscht, dass die Portugiesen voll integriert sind und in den vergangenen Jahrzehnten einen grossen Beitrag zur wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklung geleistet haben. Ich hoffe, dass dies in Zukunft ein wichtiges Plus ist, wenn wir uns mit diesem Entscheid auseinandersetzen müssen.

Bruno Maçães wurde 1974 geboren. Er hat ein Lizentiat in Rechtwissenschaften der Universität von Lissabon sowie einen Doktortitel für politische Wissenschaften der Harvard University (USA).

Von 2006-2007 war er Professor für internationale Wirtschaftspolitik an der Universität von Yonsei (Südkorea). 2008 arbeitete er am American Enterprise Institute. Zwischen 2008-2011 beteiligte er sich am Aufbau des European College of Liberal Arts in Berlin.

Vom Juni 2011-März 2013 war er politischer Berater des Premierministers. Seine neusten Publikationen befassen sich mit Wirtschaftspolitik, Strukturreformen und der Zukunft der Eurozone.

 

(Quelle: Portugiesisches Aussenministerium)

swissinfo.ch: Wie wird die portugiesische Regierung innerhalb der EU angesichts der Nichteinhaltung bilateraler Verträge handeln?

B.M.: Wie es EU-Kommissionspräsident Barroso bereits getan hat, ist es wichtig zu erklären, dass für uns die Personenfreizügigkeit nicht verhandelbar ist. Es geht schlichtweg um eine so wichtige und heilige Freiheit wie beim freien Waren- und Kapitalverkehr. Es macht keinen Sinn, dass Kapital frei zirkuliert oder man Waren und Dienstleistungen kaufen und verkaufen kann, jedoch die Personen nicht die Freiheit haben, ihre Zukunft dort aufzubauen, wo sie möchten.

Das ist für uns äusserst klar und nicht verhandelbar. Ich hoffe, dass auch der Schweizer Bundesrat auf das ganze Paket setzt. Es ist unmöglich, dass man nur die wünschbaren Teile auswählt und die anderen ablehnt.

swissinfo.ch: Mit der Aussetzung der Verhandlungen über den gemeinsamen Energiemarkt sowie der Schweizer Beteiligung an den akademischen Programmen Horizon 2020 und Erasmus hat die EU bereits die ersten Massnahmen ergriffen. Sind Sie der Meinung, dass diese angemessen sind?

B.M.: Das Abstimmungsresultat hat alle zukünftigen Entwicklungen suspendiert, bis Klarheit herrscht. Auch der Vertrag für die Personenfreizügigkeit mit Kroatien ist ausgesetzt. Ich meine, dass beide Seiten nicht weiterfahren können, solange wir den Kontext nicht kennen. Vor allem für die Wissenschaftspolitik finde ich es tragisch, wenn ich mich überhaupt so ausdrücken darf. Die Schweiz hatte  an diesen Programmen eine wichtige Beteiligung mit fantastischen Ergebnissen für das Forschungsklima im Land. Deshalb sehe ich diesen Entscheid mit grossem Bedauern, glaube jedoch, dass es keine Alternative gab.

swissinfo.ch: Ist der Entscheid der Schweiz, den Vertrag über Personenfreizügigkeit mit Kroatien nicht zu unterzeichnen, akzeptabel?

B.M.: Nach dem Abstimmungsresultat war es bereits klar, dass es für den Bundesrat sehr schwierig sein würde, in diesem Punkt voranzukommen; denn mit dem Referendum hat er ein Volksmandat, keine neuen Verträge für Personenfreizügigkeit zu unterzeichnen. Deshalb war der Entscheid für mich keine Überraschung, bestätigt aber unsere Befürchtungen und auch, dass wir einen langen und schwierigen Prozess beginnen.

Ich habe meinen Kollegen im Europäischen Rat gesagt, dass es für beide Seiten das Beste ist, Ruhe zu bewahren und sehr objektive Gespräche zu beginnen. In einer schwierigen Situation müssen wir versuchen, den möglichen Schaden für beide Seiten auf ein Minimum zu reduzieren.

Präsident Barroso hat klargestellt, dass der Schaden für die Schweiz grösser sein wird. Ich glaube, dass die Schweiz mehr zu verlieren hat, wenn ein umfangreicherer Integrationsprozess mit der EU Rückschläge erleidet oder rückgängig gemacht wird. Sowohl die Schweizer Bürger als auch der Bundesrat müssen sich dessen bewusst sein.

swissinfo.ch: Eines der Argumente der Befürworter der Initiative ist, dass das Ziel nicht in der Auflösung der Verträge, sondern der Beschränkung der Einwanderung besteht. Die Verträge sehen im Falle von wirtschaftlichen oder sozialen Problemen eine Revision vor. Sie behaupten, dass eine Mehrheit der Wähler glaubt, dass dies mit jährlich 80’000 neuen Zuwanderern und einem Ausländeranteil von 23,8% der Fall ist. Stimmen Sie mit diesen Argumenten überein?

B.M.: Das ist genau der Punkt, den die Brüsseler Behörden hervorstreichen: Wenn wir umfangreiche und ehrgeizige Verträge haben, die für die Zukunft dauerhaft sein sollen, können wir nicht kleine uns passende Teile auswählen und andere ablehnen. Sie sind Teil eines gemeinsamen Pakets. Es muss ohne Zweifel und Zweideutigkeiten klargemacht werden, dass dies keine funktionierende Strategie ist.

swissinfo.ch: Die Schweizer Volksabstimmung scheint populistischen und anti-europäischen Parteien in anderen Ländern Auftrieb zu geben. Glauben Sie, dass sie die Europawahlen vom 25. Mai beeinflussen könnte?

B.M.: Ich glaube, ja, mehr noch, befürchte es. Gleichzeitig ist es eine wichtige Lektion für andere europäische Länder. Ich möchte eine transparentere Diskussion über die Vorteile der EU. Zwar lebe ich nicht in der Schweiz und kann es deshalb nicht wissen. Doch ich frage mich, ob es nicht an Transparenz mangelt, da einige sehr offensichtliche Vorteile der europäischen Integration nicht sichtbar sind. Sie scheinen zur natürlichen Ordnung der Dinge zu gehören, wie Handel und der Austausch von Wissen oder Forschung. Dem ist jedoch nicht so, und sie können bei einem Abbau des Integrationsprozesses mit der EU beeinträchtigt werden.

swissinfo.ch: Die Schweizerische Volkspartei und Autor der Initiative strich während der Kampagne Probleme wie Kriminalität, die hohe Arbeitslosigkeit unter den Ausländern sowie die Belastung der Sozialversicherungen hervor. So hat z.B. die Zahl der Portugiesen, die Sozialunterstützung erhalten, in den letzten fünf Jahren ständig zugenommen und belief sich Ende 2012 auf 10´234. Diese Probleme werden auch in Mitgliedstaaten der EU diskutiert. Sind das für die EU keine gültigen Argumente?

B.M.: Darüber müssen wir sehr ernsthaft diskutieren. Alle mir vorliegenden Berichte bestätigen, dass in Ländern wie der Schweiz, Deutschland und Grossbritannien der Beitrag der Immigranten auch für das Sozialsystem positiv ist. M.a.W.: ihre Steuer- und Beitragsleistungen sind grösser als die erhaltenen Sozialbezüge, sogar wenn man das Alter der Einwanderer berücksichtigt.

Diesbezüglich besteht viel Konfusion und die Politiker tragen hier Verantwortung. Man sollte sich nicht durch Wahlversprechen verleiten lassen. Es gibt kein Land, weder in Europa, noch sonst wo, das durch Einwanderung so sehr begünstigt wurde wie die Schweiz. Sie zieht die grössten Talente aus aller Welt an, um in der Schweiz zu arbeiten und zu ihrer Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur beizutragen.

(Übertragung aus dem Portugiesischen: Regula Ochsenbein)

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