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Röstigraben auch in Schweizer Presselandschaft

Röstigraben: Am Sonntag an der Urne, am Montag im Schweizer Blätterwald. swissinfo.ch

Der Röstigraben, der sich beim Ja zur Sanierung der Arbeitslosenversicherung an der Urne auftat, setzt sich in den Spalten der Schweizer Presse fort: Deutschschweizer Zeitungen begrüssen die Reform als ausgeglichen, Medien aus den lateinischen Landesteilen kommen sich majorisiert vor.

“Vernünftig” sei das Ja des Schweizer Stimmvolks zur Revision der Arbeitslosenversicherung (ALV), so der Tenor der Zeitungen der deutschsprachigen Schweiz.

“Auf Kosten der wirtschaftlich schwächeren Regionen”, tönt es aus den Kommentaren der Westschweiz und dem Tessin, wo mehr Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen sind.

“Ein Sieg des Kompromisses”, verkündet die Aargauer Zeitung. Gehe es um die grossen Sozialwerke, sage das Volk Ja, wenn es sich um eine ausgewogene Vorlage handle.

“Wo immer es um Renten und Sozialleistungen geht, reagiert das Volk sensibel”, schreiben der Zürcher Tages-Anzeiger und der Bund aus Bern. Zu Erfolg komme nur, wer behutsam vorgehe und Reformen vorschlage, die ein gewisses Gleichgewicht wahrten.

Regierung: Geschick gefragt

Das Verdikt sei aber mit Vorsicht zu werten. “Man stimmte vor allem dort zu, wo die Arbeitslosigkeit eher die anderen trifft”. Nein habe das Stimmvolk dort gesagt, wo die Arbeitslosenzahlen seit Jahren überdurchschnittlich hoch seien: in der Romandie und im Tessin, so Tages-Anzeiger und Bund weiter. “Der Bundesrat sollte gut überlegen, ob er die Sparmassnahmen aus Rücksicht auf die schwächeren Regionen nicht erst 2012 umsetzen will, wenn sich der Aufschwung hoffentlich auch am dortigen Arbeitsmarkt stärker bemerkbar macht.”

Auch die Berner Zeitung begrüsst den Abstimmungsausgang. “Gut so. Die Kürzungen im revidierten Gesetz sind vertretbar, und die Lohnabzüge werden bei einem Ja weniger stark erhöht als bei einem Nein.”


Das Stimmvolk habe den Kompromiss von Regierung und Parlament goutiert, schreibt die Neue Zürcher Zeitung. Allerdings zeigten sich – “auffallend, aber nicht überraschend” – “Mentalitätsunterschiede”.

Die Westschweizer und das Tessin setzten stärker auf staatliche Leistungen als die Deutschschweiz und reagierten deshalb kritischer auf den Abbau sozialer Massnahmen, so die NZZ.

“Trotz klarem Nein der Romands – Das Schweizer Volk schluckt den Abbau bei der Arbeitslosenversicherung. Sieg für Bundesrat, Parlament und bürgerliche Mehrheit”, schreibt der Blick. Das Nein der Romandie und des Tessins bringt das Boulevardblatt in direkte Verbindung mit deren Kampf gegen höhere Arbeitslosigkeit.

Auch Beunruhigung

Verhaltene Töne kommen aus Basel. Mit dem Ja sei “ein Schritt hin zur Sanierung der Arbeitslosenkasse getan”, schreibt die Basler Zeitung. “Wirkliche Freude mag deswegen aber keine aufkommen”, denn mit einem Zeithorizont von 17 Jahren stehe die Sanierung auf wackligen Beinen.

Der Winterthurer Landbote ist vom “tiefen Graben”, den die Schweizer trenne, beunruhigt. Obwohl die Vorlage “ausgewogen” und “wegen der finanziellen Probleme der ALV nötig” sei – hätten die Sieger keinen Grund zum Jubeln. Die Bürgerlichen wüssten nun nämlich, “dass selbst moderate Sanierungen im Sozialbereich nur knapp angenommen werden”.

“Hart, aber vernünftig”, betitelt die Neue Luzerner Zeitungden Urnenentscheid. Die Stimmberechtigten hätten zähneknirschend das “unangenehme wie unabwendbare Rettungspaket” gutgeheissen.

Solidaritätsbruch

Scharf tönt es aus der Westschweiz. Die härtesten Kommentare kommen aus Neuenburg und aus dem Jura, jenen Kantonen also, die traditionell über eine hohe Arbeitslosigkeit verfügen. “Eine Ohrfeige für die Arbeitslosen”, titeln L’Express und L’Impartial.

Die ALV-Revision sei “demokratisch von jenen Regionen durchgesetzt worden, die am meisten von der Krise verschont geblieben sind”, schreibt der Quotidien Jurassiene.

Le Matin warnt die siegreiche Mehrheit vor einem gefährlichen Spiel. “Statt einer stärkeren Erhöhung, die alle Schweizer gleichmässig getroffen hätte, haben die Deutschschweizer die Variante der geringfügigeren Beitragserhöhung vorgezogen. Die Differenz müssen nun die Westschweizer Kantone begleichen.”

Sarkastisch fragt sich Le Matin, wo der nächste Solidaritätsbruch erfolgen werde. Aus der Erfahrung des Sonntags müssten die Lehren gezogen werden, denn das Verdikt stehe im Widerspruch zur Art, wie die Schweiz funktioniere.

Die Waadtländer Zeitung 24 heures warnt angesichts der tiefen Stimmbeteiligung davor, einen “einheitlichen Röstiteller anzurichten”. Das Resultat widerspiegle den Willen, das Defizit nicht mehr weiter anwachsen zu lassen, das die Zukunft dieser Sozialversicherung belaste.

Le Temps sucht Erklärungen für das Wiederaufreissen des Grabens zwischen den Landesteilen. “In den lateinischen Regionen und in Basel-Stadt ist die Solidarität eine Tugend, die man aus Prinzip verteidigt. Den Deutschschweizern hingegen ist eine ausgeglichene Buchhaltung wichtiger. Auch sind sie sich bewusst, dass Schuldenberge in die politische Sackgasse führen können”, so die Genfer Zeitung.

Hilfeschrei nicht überhören

Die Deutschschweizer hegten seit Urzeiten das Misstrauen, dass die Kosten der Sozialversicherungen deren Nutzen übertreffe, schreibt der Corriere del Ticino. Deshalb sei in der Deutschschweiz die Bereitschaft viel grösser als im Tessin, Leistungen zu kürzen und über alle möglichen Missbräuche zu sprechen.

La Regione bezeichnet das Nein des Tessins und der Westschweiz als “Hilfeschrei” jener Regionen, die in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckten. Dieses Signal dürfe man nicht überhören, vielmehr müsse es die Regierung ernst nehmen, wie dies Bundespräsidentin Doris Leuthard nach der Abstimmung versprochen habe.

Die Abzüge für Arbeitnehmer und Arbeitgeber werden von 2 auf 2,2% angehoben. Dies betrifft Einkommen bis 126’000 Franken.

Einkommen von 126’000 bis 315’000 Franken werden mit einem Solidaritätsbeitrag von 1% belastet, bis das ALV-Defizit behoben ist.

Bei einem Nein wären sie auf 2,5% gestiegen. Der Bundesrat ist gesetzlich zu einer Erhöhung der Abzüge verpflichtet, wenn die Schulden eine bestimmte Grenze überschreiten.

Für die ALV-Sanierung sind Einsparungen von 622 Mio. nötig.

Beitragspflichtige müssen neu während 18 Monaten Beiträge einzahlen, damit sie im Falle von Arbeitslosigkeit während 18 Monaten Arbeitslosengeld beziehen können. Bisher liegt die Beitragsdauer bei einem Jahr.

Für Schul- oder Studienabgang wird eine Wartefrist von 120 Tagen eingeführt. Für Personen ohne Unterhaltspflicht sind zusätzliche Wartetage vorgesehen.

Jugendlichen unter 25 Jahren werden die Taggelder von 400 auf 200 herabgesetzt.

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