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“Die patriotischen Fans sind eine Gruppe, die nur schwer kontrolliert werden kann”

Fans brüllen
Fans des ZSKA Moskau. Keystone

Ulrich Schmid, Professor für russische Gesellschaft und Kultur an der HSG, über Land und Leute und die bevor­stehende Fussballweltmeisterschaft in Russland.

Ulrich Schmid, Sie sind Pro­fessor für russische Gesellschaft und Kultur an der HSG. Gibt es noch die russische Seele?

Ulrich Schmid: Die russische Seele ist eine Erfindung des Westens. Man hat immer gerne von den vergeistigten Menschen in Russland geschwärmt, deren Seele der Weite der Landschaft entspreche. Russland ist aber eine alte europäische Kulturnation, die zahlreiche Kunstepochen wie etwa die Avantgarde und den Modernismus entscheidend mitgeprägt hat. In der heutigen angespannten politischen Situation gibt es natürlich eine abweichende Strategie der nationalistischen Selbstdarstellung. Der Kreml behauptet, Russland sei eine einzigartige Zivilisation, die nicht nur über eigene Interessen, sondern auch über eigene Werte verfüge.

Ein Mann im Fernsehstudio
Prof. Dr. Ulrich Schmid ist seit 2007 Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. SRF-SWI

Was ist für junge Russen heute wichtig?

Die russische Jugend ist über Social Media, Kino und Fernsehserien eng an die westliche Populärkultur angeschlossen. Die jungen Menschen in Russland und Westeuropa haben ähnliche Träume und Ideale. Sie gehören alle zur Generation Y – also zu einer Generation, die in einer gerechten Gesellschaft leben möchte und sie auch mitgestalten will.

Worunter leidet die russische Gesellschaft derzeit am stärksten?

Das grösste Problem liegt darin, dass der Kreml die russische Gesellschaft in einen geistigen Belagerungszustand versetzt hat. Die Stimmung in den Medien ist aufgeheizt. Der Staat kontrolliert alle wichtigen Fernsehkanäle. Den Bürgern wird eingeredet, der Westen sei Russland gegenüber feindlich eingestellt und wolle nicht, dass Russland eine starke Position in der Weltpolitik einnehme.

Wie hart treffen die aktuellen Sanktionen – auch jene der EU – das Land und die Menschen?

Die Sanktionen zeigen Wirkung, vor allem jene, die kürzlich neu von den USA verhängt worden sind. Die ohnehin schwierige wirtschaftliche Situation des Landes wird dadurch weiter kompliziert. Andererseits verfügt Russland über einen grossen Binnenmarkt und hat in der jüngeren Geschichte schon viel schlimmere Krisen erlebt. Es ist aber auch klar: Der Westen kann mit seinen Sanktionen das aussenpolitische Verhalten des Kreml nicht beeinflussen.

Wechseln wir zum Sport: Welchen gesellschaftlichen Wert hat der Fussball im Land?

Laut einer Umfrage des unabhängigen Levada-Instituts aus dem Jahr 2013 interessieren sich 63 Prozent der Befragten überhaupt nicht für Fussball. Fussball ist also kein Massenphänomen wie in Deutschland, Italien, England oder Brasilien. Das hat wohl auch damit zu tun, dass die russische Nationalmannschaft an den bisherigen Turnieren nicht in den vordersten Rängen mitgemischt hat. Russland ist eher ein Eishockey-Land.

Wagen wir eine Vorhersage: Die Fussball-WM wird ein voller Erfolg – vor allem für Putin.

Die WM ist natürlich ein persönliches Prestigeprojekt von Putin. Grundsätzlich richtet aber jedes Land eine WM oder EM vor allem aus symbolischen Gründen aus, um das eigene Ansehen in der Weltöffentlichkeit zu befördern. Russland ist da keine Ausnahme.

Ausschreitungen und Rassismus sind in russischen Stadien Alltag. Hat man die Hooligans im Griff?

Hooligans sind in allen Ländern eine problematische Gruppe. Es gibt Fans, die sich authentisch für den Fussball begeistern, und es gibt gewaltbereite Splittergruppen. Man hat in den vergangenen Jahren beobachten können, wie der Kreml potenzielle Unterstützer seines patriotischen Kurses in der Gesellschaft identifiziert und unterstützt hat. Dazu gehört zum Beispiel der Motorradclub der “Nachtwölfe”. Diese Biker gehörten ursprünglich zur Untergrundszene, setzen sich aber mittlerweile offen für die nationalistischen und religiösen Ideale des Kreml ein. Ähnliches kann man in der Fussballszene beobachten. Die pa­triotischen Fans sind allerdings eine Gruppe, die nur schwer kontrolliert werden kann. Der Kreml muss darauf achten, dass es nicht zu kontraproduktiven Effekten kommt. An der WM wird deshalb mit massiver Polizeipräsenz zu rechnen sein.

Ein Mann wirft eine Bierflasche
Die französische Polizei setzt in Marseille 2016 Tränengas gegen Englandfans ein. Ariel Schalit

Homosexualität ist im Fussball immer noch ein Tabu. Das gilt erst recht für Russland.

In Russland darf laut einem Gesetz von 2013 Homosexualität nicht öffentlich propagiert werden. Damit sollen Minderjährige vor “nicht traditionellen” Formen der Sexualität geschützt werden. Das gleiche Problem hatte man bereits an den Winterspielen in Sotschi. Damals folgte man de facto der alten Lösung für die amerikanische Armee: “Don’t ask, don’t tell”. Dieselbe Parole wird stillschweigend auch für die Fussball-WM gelten. Man erwartet von Spielern und den westlichen Besuchern, dass Homosexualität nicht thematisiert wird.

Was wünschen Sie sich mit Blick auf Russland von dieser WM?

Ich wünsche dem Land, dass es ein Fussball-Sommermärchen erleben kann und dass die WM zur Entspannung beiträgt. Ich hoffe, dass der russischen Bevölkerung in der Begegnung mit den vielen Gästen klar wird, dass der Westen kein Feind ist, dass man den russischen Bürgern in Europa wohlgesonnen ist. Im Idealfall kann diese WM den gleichen Effekt haben wie das Moskauer Jugendfestival von 1957. Damals spielten die feindlichen Ideologien überhaupt keine Rolle; es kam zu einem intensiven Kontakt zwischen Menschen von beiden Seiten des eisernen Vorhangs.

Ihr Tipp: Wie weit kommt Russland an der WM, und wer wird Weltmeister?

Wenn die Sbornaja die Gruppenphase übersteht, trifft sie wahrscheinlich entweder auf Spanien oder Portugal. Das wird eine schwierige Partie werden. Und ansonsten kann man nur den alten Witz des früheren eng­lischen Fussballspielers Gary Lineker wiederholen: “Fussball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten einem Ball nach und am Ende gewinnen immer die Deutschen.”

Dieser Artikel erschien erstmals im St. Galler TagblattExterner Link.

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