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Schengen betrifft Reiseverkehr, aber nicht nur

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Im Spätherbst schliesst sich die Schweiz dem Schengenraum an. Dieser erleichtert in erster Linie den Reiseverkehr von Personen und betrifft die Sicherheit. Laut dem Ökonom Reiner Eichenberger vereinfacht sich dadurch auch der Verkehr von Dienstleistungen.

Noch dieses Jahr öffnen sich die Grenzen der Schweiz gegenüber der EU vollständig – für den Personen- sprich Reiseverkehr. Für Reiner Eichenberger, Professor für Volkswirtschaft an der Uni Freiburg, hat dies jedoch grosse Folgen für die Aussenwirtschaft.

Besonders in den heute so wichtigen Bereichen der Dienstleistungen. Der Beitritt zum Schengenraum müsse deshalb im Gesamtkontext der internationalen Öffnung der Schweiz gesehen werden.

Diese Öffnung brauche das Land, weil es räumlich und bevölkerungsmässig zu klein sei, um sich selbst zu genügen, wie sich dies grosse Länder wie die USA oder Russland erlauben können.

swissinfo: Inwiefern ist die Öffnung des Personenverkehrs, also die Realisierung des Schengenraums, ein Teil der internationalen Öffnung der Schweiz?

Reiner Eichenberger: Für den Schweizer Normalbürger wird sich mit der Realisierung des Schengenraums zuerst mal gar nichts ändern. Denn es geht dabei um polizeiliche Kontrollmassnahmen und Sicherheit.

Neu werden diese einfach etwas anders kontrolliert als früher. Weiterhin kann aber jeder Bürger gefragt werden: ‘Haben Sie Waren dabei?’ Hat er das, muss er dafür die Mehrwertsteuer oder Zölle bezahlen – wie bisher.

Bliebe die Schweiz weiterhin ausserhalb des Schengenraums, würde die Grenze zwischen den EU-Nachbarstaaten und der Schweiz definitiv zu einer so genannten EU-Aussengrenze.

Seitens der EU würde dann an der Schweizer Grenze härter kontrolliert werden. Es käme zu Erschwerungen im Grenzverkehr, auch für Personen.

Deshalb gilt: Gerade weil die Schweiz dem Schengenraum beitritt, verändert sich für den Normalbürger nur wenig. Bliebe die Schweiz draussen, gäbe es jedoch Veränderungen, und zwar im negativen Sinn.

swissinfo: Juristen betonen, Schengen betreffe nur die auf Personen bezogene Liberalisierung des Reiseverkehrs. Bleibt die Frage, ob sich denn der Waren- und Dienstleistungs-Verkehr auch ohne Freigabe des Reiseverkehrs liberalisieren lässt?

R.E.: Jetzt kommt es vorerst zu einer weiteren Erleichterung im Personen-Grenzverkehr. Es muss an der Grenze selber keine eigentliche Kontrolle mehr stattfinden, weil diese auch im nachgelagerten Raum durchgeführt werden kann.

Die Personenkontrolle zwischen den einzelnen Schengen-Ländern wird somit vereinfacht. Auf den Warenverkehr hat das erst mal keine Auswirkungen.

Der umgekehrte Fall, also ein liberalisierter Waren- und Dienstleistungs-Verkehr ohne Reisefreiheit, wäre im Prinzip ebenfalls denkbar. Aber nur in sehr rudimentären Wirtschaften, wo sich Ein- und Ausfuhren auf Waren und Güter beschränken.

Doch im innereuropäischen Wirtschafts-Alltag geht es heute weniger um Waren als um Dienstleistungen. Und diese sind ohne freien Personenverkehr nicht zu erbringen – es ist ja oft die sachverständige Person, die sich als Dienstleisterin an Ort begeben muss, damit der importierte Service überhaupt erbracht werden kann.

swissinfo: Heisst das, dass de facto ein freier Wirtschaftsverkehr eben doch einen freien Personenverkehr voraussetzt?

R.E.: Genau. Werbung, Beratung, Kundengespräche, Banking, Technologie, Unterhalt: International läuft in diesen Bereichen nichts ohne Personenverkehr.

Ein weiteres Beispiel sind exportierte Haushalts-Güter oder Maschinen. Diese müssen an Ort eingebaut werden oder stehen unter Service-Garantie. Installateure oder Monteure müssen dazu frei über die Grenze fahren dürfen.

swissinfo: Muss denn der kleinen Schweiz besonders stark an offenen Grenzen gelegen sein?

R.E.: Ja. Je kleiner ein Land, desto weniger kann es als autarkes, wirtschaftlich unabhängiges Land bestehen. In grossen Ländern wie den USA sind Aussenbeziehungen viel weniger wichtig.

Der Aussenhandel wird deshalb umso wichtiger, je kleiner das Land ist.

Am Aussenhandel gewinnen ja vor allem jene Länder, die etwas anders produzieren als die anderen. Erst die Möglichkeit zum Export erlaubt es gewissen Ländern, sich auf das zu spezialisieren, worin sie besonders gut sind.

Im Fall der Schweiz ist es nun aber so, dass viele dieser Spezialisierungen nicht Waren, sondern Dienstleistungen sind – und da wird der freiePersonenverkehr unumgänglich.

Je spezialisierter ein Land ist, desto mehr profitiert es von internationalen Öffnungen. Dasselbe gilt auch für reiche Länder.

swissinfo: Behindern aber nicht gerade bei reichen Ländern die hohen Inlandpreise diese Öffnung?

R.E.: Genau. Zu nominellen Wechselkursen umgerechnet ist die Kaufkraft der Schweizer 40% höher als die der EU-Nachbarn. Das führt dazu, dass die Schweizer gezielt mit monopolistischen Preisdifferenzen ausgebeutet werden.

Viele in- und ausländische Unternehmen können der Versuchung nicht widerstehen, die hohe Kaufkraft der Schweiz dadurch abzuschöpfen, dass sie die Preise höher ansetzen als in den Nachbarländern.

swissinfo: Gehen darum so viele Schweizer über die Grenze einkaufen?

R.E.: Ja. Diese Versuche, die Kaufkraft einseitig abzuschöpfen, können die Schweizer kontern. Zum Beispiel indem sie die Grenzen besonders gegenüber den Nachbarländern offen halten, in denen die gleichen Produkte billiger sind. Dazu müssen sie sich einen freien Personenverkehr ausbedingen.

swissinfo-Interview: Alexander Künzle

Eichenberger ist Professor für Finanzwissenschaften an der Uni Freiburg und Forschungsdirektor von Center for Research in Economics, Management and the Arts.

Er ist spezialisiert auf ökonomische Analyse von politischen Prozessen und Institutionen und Wirtschafts- und Finanzpolitik.

Er ist unter anderem Mitglied der Eidgenössischen Kommunikations-Kommission (comcom) und war bis 2006 nebenamtlicher Richter an der Eidg. Rekurskommission für Wettbewerbsfragen.

Im Schengener Abkommen (“Übereinkommen von Schengen”) vereinbarten 1985 fünf europäische Staaten, an ihren gemeinsamen Grenzen auf Personenverkehrs-Kontrollen zu verzichten.

Inzwischen wird das Abkommen in 24 Ländern angewendet; unterzeichnet ist es von 30.

Innerstaatlich erfolgen dafür in allen Schengen-Ländern verschärfte Zoll- und Polizei-Kontrollen.

An der EU-Aussengrenzen zu Drittstaaten wird ebenfalls verschärft kontrolliert.

Mit einem Schengen-Visum erhalten Nicht-EU-Bürger die Erlaubnis, in sämtliche Schengen-Staaten einzureisen (mit Aufenthaltserlaubnis). Jedes Schengen-Mitgliedsland kann solche Visa erteilen.

Die Abschaffung der Grenzkontrollen ist faktisch erst möglich, wenn das betreffende Land an das Schengener Informationssystem (SIS), eine nichtöffentliche Datenbank, angebunden ist.

Dieses Fahndungssystem SIS wird schweizerischerseits am 14. August in Betrieb genommen.

Das Schweizer Parlament ratifizierte das Schengen-Abkommen am 16. Oktober 2004.

Am 5. Juni 2005 hiess das Schweizer Stimmvolk die Referendumsabstimmung zu den Verträgen Schengen/Dublin mit 54,6% Ja-Stimmen gut.

Laut Zeitplan sollte die Schweiz diesen Spätherbst in den Schengen-Raum eintreten.

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