Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Schluss mit der “Kuschelpädagogik”?

In Albert Ankers Dorfschule im 19. Jahrhundert war noch klar, wer im Klassenzimmer das Sagen hatte. Keystone

Eine Zürcher Schulklasse soll innerhalb von zweieinhalb Jahren sechs Lehrpersonen verschlissen haben. Der Fall hat viel Aufsehen erregt und kontroverse Reaktionen ausgelöst.

Während die einen ein strenges Durchgreifen und Sanktionen verlangen, fordern die anderen mehr Zusammenarbeit zwischen Schule, Elternhaus und Behörden.

Die Leserbriefspalten sind momentan voll von Kommentaren zur Mobbing-Klasse vom Zürcher Friesenberg. “Schluss mit der Kuschelpädagogik” verlangt ein Schreiber. Helfen und fördern sei zwar wichtig, ebenso wichtig sei aber auch das Fordern und Setzen von Grenzen.

Als einfachste und billigste Lösung des Problems möchte eine Schreiberin die renitenten Kinder aus dem Balkan als Austauschschüler in ihre Heimat zurücksenden. “In den strengen Koranschulen würde dann diesen frechen Typen wohl der Koran um die Ohren gehauen.”

Ein anderer Briefschreiber findet, Eltern, Schulvorsteher, Behörden und Politiker sollten sich alle zusammen schämen. Sie hätten das geschehen lassen, ohne etwas Wirksames zu unternehmen. Für ihn sind “die guten Tage der Schweiz gezählt”. So etwas “ist wirklich nur in einer schwer degenerierten Gesellschaft möglich.”

Keine Patentrezepte

So vielfältig die Reaktionen in den Leserbriefspalten sind, so vielschichtig sind jene aus der Expertenecke.

Doris Hochheimer vom Berner Lehrerverband Lebe meint, eine Lehrperson müsse wissen, wie reagieren, wenn ein Schüler nicht lernen wolle und sich als Rädelsführer aufspiele. Solche Fälle müssten in der Aus- und Weiterbildung mehr berücksichtigt werden.

Der Integrationsexperte Romano Müller von der Pädagogischen Hochschule Bern will bei den Studierenden ein Problem-Bewusstsein schaffen. “Wir können keine Lösungen auf Vorrat produzieren, denn es gibt kein Rezept zur Lösung solcher Probleme.”

Für Müller können “Misserfolg und Enttäuschung ein Nährboden sein für Aggressionen”. Schulisch schwachen Kindern müsse deshalb mit Hausaufgabenhilfen und speziellen Förderprogrammen ein positives Lernergebnis bereitet werden.

Positive Beispiele

In jeder Gesellschaft äussert sich ein Teil der Jugend irgendwann mal mit Gewalt, so Müller. “Enthemmungen hat es in jeder Jugendkultur gegeben.”

Auch die Politik zeige, “dass aggressives Verhalten erfolgreicher ist als Konsensverhalten”. Bevor überhaupt ein Dialog entstehen könne, sei die Sache schon mit Meinungen besetzt. “Es ist so wie es ist, es wird gar nicht mehr darüber diskutiert.”

Strikter durchgreifen

Der Ruf nach mehr Disziplin in den Schulstuben ist in letzter Zeit immer lauter geworden. Doris Hochheimer mahnt da zur Vorsicht: “Natürlich müssen klare Grenzen gesetzt werden. Es darf aber nicht sein, dass der Lehrer vorne befiehlt und die Kinder gehorchen.”

“Wir wollen mündige Bürger, die selber denken können. Menschen, die blind gehorsam hinterhermarschieren, können das nicht.”

Es brauche integrierte Kinder, “die einsehen, dass sie sich an gewisse Regeln halten müssen. Sonst funktioniert unsere Gesellschaft nicht und wir können nicht miteinander leben.”

Nichts geht ohne Zusammenarbeit

Die Lehrervertreterin Doris Hochheimer glaubt, viele Eltern nähmen ihre Erziehungsaufgaben nicht richtig wahr. Oft hoffe man, die Schule werde es schon richten. Das beginne bereits mit dem berüchtigten Ausspruch, mit dem Kindergärtner eingeschüchtert würden: “Warte nur, bis du in die Schule kommst!”

Auch Romano Müller ist überzeugt, dass solche Aufgaben in den Lehrerkollegien gelöst werden müssten, in Zusammenarbeit mit Fachleuten wie zum Beispiel Sozialarbeitern. “In den meisten Kantonen existieren Erziehungsberatungen, die Kontakt haben zu schulexternen Beratern, die falls nötig zugezogen werden können.”

Anita Bomatter vom Verein Schule und Elternhaus Schweiz ist zwar überzeugt, dass im Fall des Zürcher Lehrermobbings die Schulleitung und der Schulrat ihre Verantwortung nicht richtig wahrgenommen haben. Der regelmässige Austausch zwischen Lehrerschaft, Schulbehörden und Eltern sei aber auch sehr wichtig.

“Wenn sich Eltern einzeln beschweren müssen, dringen sie mit ihren Anliegen kaum durch.” Dies hätten auch die Briefe zweier Eltern gezeigt, die vom Zürcher Schuldirektor nicht gelesenen wurden, obwohl sie eingeschrieben waren.

Deshalb brauche es eine Elternorganisation.” Wir wollen unsere Einwände und Vorschläge einbringen und auch Rückmeldungen erhalten, was davon geändert wird oder nicht.”

swissinfo, Etienne Strebel

Mobbing durch Schüler und Burnout sind bei Lehrkräften keine Seltenheit. Galten früher Lehrer als Respektpersonen, leiden sie heute oft an Überforderung. Ein grosser Teil der Lehrkräfte scheidet vorzeitig aus ihrem Beruf aus, viele infolge psychosomatischer oder psychischer Erkrankungen.

Gewalt in den Schulen ist kein Zürcher Problem. Auch in den Zentralschweizer Kantonen hat die Aggressivität einzelner Schüler massiv zu- und die Autoritätsgäubigkeit massiv abgenommen. Dort wird vermehrt ein restriktiver Kurs gefahren.

Die Stadt Luzern hat für renitente Oberstufenschüler als letzte Massnahme seit Anfang dieses Schuljahrs eine Speziallösung, “Time-Out-Klasse” genannt.

Die Jugendlichen bleiben dort bis zu einem halben Jahr. Während der Hälfte der Schulwoche haben sie Unterricht, die andere Hälfte arbeiten sie in einem Betrieb, z. B. in einer Autogarage.

Betreut werden sie von einem Lehrer und einer Sozialpädagogin.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft